Spuren von 3000 Jahren Geschichte weist Israels Hauptstadt Jerusalem auf. Im Alltag leben Juden, Moslems und Christen auf Tuchfühlung

Joel stülpt sich eine Kippa auf den Hinterkopf, gießt den Wein in winzige verzierte Metallbecher und verteilt ihn an seine Gäste. Ruth hat einen Korb mit Zopfbrot gebracht, das sie bricht und ihren Besuchern reicht. Dann fangen die Mittfünfziger an zu singen. Er leise und getragen, sie mit heller Stimme darüber. Das Lied erzählt, wie Gott die Erde in sechs Tagen geschaffen hat und am siebten Tag ruhte. Freitagabend, wenn der Sabbat anhebt, wird in israelischen Familien daran gedacht.

Joel spricht den Kiddusch: "Auch wenn ich in der Schlucht des Todesschattens gehe, fürchte ich das Böse nicht, denn du bist mit mir. Du wirst mir den Tisch vor meinen Feinden richten." Dann nippen wir am Wein. Und Ruth erzählt von zwei Engeln, die sich jetzt auf jede Schulter gesetzt hätten, einer rechts, einer links. Wir essen Rindersuppe, die Joel aus einem heißen Topf mit der Kelle schöpft und jedem an seinen Platz bringt. "Enjoy!" Dann Salat, Kartoffeln, Hirse, Hammelfleisch, Geflügel und Zitronenkuchen - und dürfen uns dabei geschützt fühlen.

Joel hat das Mahl in eigener Regie zubereitet. Ruth ist Gastgeberin, sie erläutert die Bilder an den Wänden der geräumigen Villa. Neben israelischen Malern auch ein Kunstwerk des US-Pinselstars Jasper Johns. Die Terrasse hat fast die Größe eines halben Fußballfeldes und ist im Westen Jerusalems, das auf 800 Meter Höhe liegt, an einen Hang gebaut. Der Blick umfasst das Westjordanland und einen Teil Ost-Jerusalems, überwiegend von Arabern bewohnt und seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 von Israel annektiert. Die Vereinten Nationen haben nie anerkannt, dass der hebräische Staat Jerusalem zu seiner Hauptstadt machte, alle Botschaften residieren in Tel Aviv. Aber das ist an diesem angenehm entspannten Abend kein Thema auf dem grandiosen Aussichtsplatz in den judäischen Bergen.

Die untergegangene Sonne hinterlässt lange Schattenkonturen auf den kahlen Kalksteinhügeln, ein sanfter Wind streichelt hin und wieder unsere Gesichter. Insekten flattern über in Begonien versteckte Lampen und blinken in deren Strahlen auf. Scheinwerfer der Autos auf den Straßen rings um die Metropole dreier Weltreligionen zucken wie Signale durch die frühe Nacht. Und mehrmals kracht es, und bunte Feuerwerksgirlanden steigen in den Himmel auf. "Araber feiern am Freitag die meisten Hochzeiten", klärt Joel seine Besucher auf.

Diese sind im Rahmen der "Jerusalem Season of Culture", einer den Sommer überspannenden Kulturshow mit unterschiedlichen Veranstaltungen von Klassik bis Orientpop, der Familie Cummings zugewürfelt worden. Nathan Cummings, Vater von Ruth, hatte eine Stiftung gegründet und viel Geld aus dem Vermögen seines Vaters eingebracht. Ruths Großvater hatte in Palästina während der britischen Mandatszeit einen Lebensmittelhandel aufgezogen und damit ein Vermögen verdient. Ruth ist Mitglied des Vorstands der Stiftung, sie hilft jungen Künstlern. Joel arbeitet in der boomenden Hightech-Branche und spricht gern über ökonomische Erfolge der "Start-up-Nation". Mit Behagen erklärt er, dass an der US-Börse Nasdaq mehr israelische als europäische Unternehmen notiert sind. Nebenher hat er einen Blick auf seinen autistischen Sohn, der sprachlos vor sich hin isst, aber selbstverständlich zur Tischrunde gehört. Kinder sind wichtig in Israel, diesem Land, das nur halb so groß ist wie die Schweiz und umgeben von Geröllwüste, Mittelmeer und Millionen feindlicher Nachbarn.

Gäste aus mehreren Ländern erleben das Sabbat Dinner bei israelischen Kulturvertretern. Es wird über Orchester aus Mittelasien, Schätze im Israel Museum und die Heiligkeit sakraler Musik geplaudert. Aber auch über die Ungewissheit, was in der Auseinandersetzung mit dem Iran geschehen wird. Es geht um Gasmasken und Schutzräume für die Zivilbevölkerung, in bemerkenswerter Ruhe wird über Maßnahmen des Ministeriums für Heimatschutz geredet. Mehr als 60 Prozent der Israelis sind wie unsere Gastgeber gegen einen Militärschlag auf das Mullah-Regime, das an der Atombombe basteln lässt. Aber zu spüren ist auch das Urvertrauen in Gott, in das Schicksal, das Jahwe für sein Volk bestimmt hat. Mit legerer Geste streckt Joel seinen Arm aus und sagt den Zugereisten aus dem christlichen Kulturraum: "Dort hinter den Hügeln ist Johannes der Täufer geboren. Da drüben hat Maria Magdalena gelebt. Dort unten, zwischen der Altstadtmauer und arabischen Dörfern, steht die Davidszitadelle, in der sich das Museum für die Geschichte Jerusalems befindet." Wir schauen auf Spuren von 3000 Jahren Geschichte im biblischen Yeruschalayim, dem arabischen Al-Kuds, "die Heilige".

Die Stadt hat ihre Infrastruktur in den letzten Jahren rasant entwickelt. Gut ausgebaute Straßen, für Einheimische und Touristen vorbildlich in drei Sprachen beschildert. Eine leise surrende Straßenbahn gleitet durch das jüdische Jerusalem und bringt Passagiere zum belebten Markt und zu den Passagen mit den Shoppingadressen berühmter Markennamen, dazu Cafés und Bistros. Im Osten der Stadt, unweit des Ölbergs, dort, wo Jesus von Judas verraten wurde, hat der Staat Israel eine acht Meter hohe Betonmauer mit Wachtürmen mitten durch palästinensische Dörfer gebaut, um sie vollständig vom Westjordanland - bibelfeste Israelis sprechen von Judäa und Samaria - abzugrenzen, vom Ring umstrittener jüdischer Siedlungen. Die Uno hat gegen den "Antiterrorzaun" protestiert, aber Israels Regierung ließ ihn trotzdem errichten, höher als die einstige Berliner Mauer, aber ohne Todesstreifen und Minen. Hier ballt sich der Nahostkonflikt. Die ummauerte historische Stadt ist kein Frontland, Muslime, Juden und Christen teilen sie sich. "Wünschet Jerusalem Glück", heißt es im Psalm 122. "Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen!" Einträchtig laufen Pilger auf den Wegen von Jeschua, wie Jesus im Hebräischen heißt, durch das Gassengewirr. Die Verkäufer im Basar haben ihre Stände grell dekoriert, um Touristen anzulocken. Im jüdischen Viertel sind manche Häuser übersaniert, und an der Klagemauer wiegen sich schwarz gekleidete Gläubige, verloren an ihre Meditation. Wenige Gassen weiter stapfen Mönche in ihren Kutten zur Grabeskirche, vorbei an jungen patrouillierenden israelischen Soldaten und Scharen spielender arabischer Kinder.

Im christlichen Viertel herrscht Konfessionswirrwarr, hier residieren Würdenträger von fast 30 Kirchen. Ganz ohne Gewusel verrinnt die Zeit im armenischen Viertel, einem Stadtteil ohne Geschäfte und Lokale, dicht bewohnt und mit Klöstern und Bibliotheken voll meditativer Stille. Gegensätze auf engstem Raum. Nirgendwo begegnen sich die monotheistischen Weltreligionen so auf Tuchfühlung wie hier. Ultraorthodoxe Juden mit gesenktem Blick hasten an Christen mit dem Neuen Testament und Arabern mit ihren Perlenketten in den Händen vorüber. Dazwischen hocken säkulare junge Leute, die rauchen und Falafel essen, in ihre Handys schwatzen und auf das überbordend Sakrale pfeifen, auf das sie doch auch stolz sind. Denn das Moderne gibt es überall, das Heilige so kompakt nur in Jerusalem.

Beim Festival sakraler Musik, dem Finale der Jerusalem Season of Culture, waren es vor allem junge Leute, die zu Trommeln und Flöten mit Sufis tanzten und mit dem Imam in den Sprechgesang "La allah ill allah" einfielen, "Es gibt keinen Gott außer Gott". Araber, Juden und Christen drehten sich, hoben die rechte Hand zum Himmel und neigten den Kopf nach links zum Herzen.