Eine Stadt mit großer Vergangenheit. Der Herbst ist im Weltkulturerbe Lübeck die ideale Zeit für überraschende Entdeckungen und Begegnungen.

Alltagsvergnügen vor großer Kulisse: Jung-Lübeck entspannt sich auf einer Rasenfläche vor dem Holstentor. Es ist ein sanfter Oktobertag, nebenan spiegeln sich die Treppengiebel der Bürgerhäuser im Wasser der Untertrave. Und ein paar Schritte weiter, im historischen Zentrum, haben es sich Rucksacktouristen auf dem Markt gemütlich gemacht. Die Digis klicken reihum, jeder will aufs Bild, aber nicht ohne das berühmte Rathaus, versteht sich, und unbedingt auch mit den grünen Türmen von St. Marien: Picknick vor einem Weltkulturerbe.

Lübeck empfindet seine große Vergangenheit ganz offensichtlich nicht mehr als Bürde. Diese kleine, charmante Großstadt, keine 70 Kilometer von Hamburg entfernt, macht ganz einfach Spaß. Und wer lange nicht da war, das Holstentor womöglich zuletzt auf dem 50-Mark-Schein oder einem Zwei-Euro-Stück von 2006 gesehen hat, muss dringend mal wieder durchs "Fegefeuer" gehen. Dieses Gässchen führt nämlich direkt ins "Paradies", so heißt die Eingangshalle des Lübecker Doms.

Himmel und Hölle haben sich in der Geschichte dieser Stadt oft die Herrschaft geteilt. Und beide, die guten wie die schlechten Zeiten, haben reichlich Spuren hinterlassen: Die Gottes- und die Patrizierhäuser bezeugen bis heute den Wohlstand und die Bedeutung früherer Jahrhunderte, aber auch den Niedergang von Hafen und Handel, den keiner so eindrucksvoll beschrieben hat wie Thomas Mann in seinen "Buddenbrooks".

Also rein in den Zug oder rauf auf die A 1. Von der Autobahn über die Schwartauer Allee, vom Bahnhof über die Puppenbrücke, und da leuchten schon die Mauern des Holstentors in der Herbstsonne, dahinter präsentieren sich alle sieben Türme auf einmal und die alten Handelshäuser noch dazu. Es ist eine der schönsten Stadtsilhouetten des Nordens, die man, auch wenn man nie da war, so oft schon gesehen hat: im Fernsehen, auf Buchtiteln und auf den Schwartauer Marmeladengläsern. Diese Kulisse macht neugierig.

Und natürlich geht es hinterm Holstentor weiter, am besten zu Fuß. Oder mit dem Kanu, einmal um die Altstadtinsel herum: Kanaltrave, ein Stück Elbe-Lübeck-Kanal, vorbei am Burgtor im Norden der City, durch den Hansa- und den Holstenhafen, dann zurück an die Untertrave. Oder erst einmal mit dem großen Überblick, vom Turm der Petrikirche über die roten Dächer und das grüne Hinterland bis an den blauen Horizont, wo der Vorort Travemünde liegt, Lübecks schöne Tochter.

Allzu oft sind die Lübecker nicht pfleglich mit ihren Kostbarkeiten umgegangen: Kaufhäuser haben sie in die Innenstadt geklotzt, einen grundhässlichen Verwaltungsbau neben das Rathaus aus dem Mittelalter gesetzt. Und schon 1863 sollte sogar das Holstentor abgerissen worden. Der Abbruch wurde denn doch, mit allerdings nur einer Stimme Mehrheit, von der Lübecker Bürgerschaft abgelehnt.

Kriegsschäden und Bausünden also wie in den meisten deutschen Großstädten. Umso mehr erstaunt der Reichtum an Kulturdenkmälern, Kirchenschätzen und Museen auf kleiner Fläche: Da ist das Heiligen-Geist-Hospital, Seniorenresidenz seit mehr als 700 Jahren, wo sich Anfang Dezember wieder die Besucher des alljährlichen Kunsthandwerkermarktes drängeln werden. Da sind die Gebäude, die an die großen Söhne der Stadt erinnern, das Buddenbrook-Haus an der Mengstraße und das Willy-Brandt-Haus an der Königstraße. Da sind Museen wie St. Annen, Behn- und Drägerhaus.

Und da sind die fünf großen Kirchen, die das Stadtbild prägen: St. Marien, das Gotteshaus der Kaufleute und Ratsherren, St. Jacobi, früher die Andachtsstätte für Pilger und Seefahrer, St. Aegidien, Bethaus der Handwerker, der Dom, doppeltürmig wie St. Marien, mit dem berühmten Triumphkreuz von Bernt Notke aus dem 15. Jahrhundert, das 1942 fast unbeschädigt aus der brennenden Bischofskirche gerettet werden konnte. Schließlich, seinerzeit auch ausgebrannt, St. Petri, heute als Kulturkirche genutzt.

Sie wirkt nur kahl und kühl, wenn keine Ausstellung, kein Konzert, keine Lesung die Halle mit Leben erfüllt. Das ist aber nur selten der Fall, dafür sorgt Dr. Bernd Schwarze, Pastor und künstlerischer Gesamtleiter an St. Petri. Der charismatische Geistliche, der in Hamburg studiert hat, lockt ganz oft einige Hundert Leute zu Veranstaltungen unter die Segeltuchplanen, die den Hall in der großen Kirche dämpfen.

Hier die Welt des kritischen Geistes, dort, direkt vor dem Kirchentor, der Alltag als Idylle. Aus den Arme-Leute-Quartieren in den Gängevierteln unterhalb von St. Petri, den sogenannten Gruben, sind schnuckelige Wohnungen geworden - begehrt, aber einer Gentrifizierung wie etwa in Ottensen noch nicht anheimgefallen. Eine Katze wärmt sich auf einer Treppenstufe, Studenten haben Stühle und Tische nach draußen gerückt. Man muss sich durch die Labyrinthe treiben lassen: Effengrube, Grützmacher-Hof oder, nahe der Mengstraße, Beckergrube, Engelsgrube, Zerrahns Gang, Sievers Thorweg, viele mehr.

Als Hamburger, aus der Metropole der Passagen, zum Einkaufen nach Lübeck fahren? Klingt etwas schräg, lohnt sich aber. Nicht unbedingt an den Hauptadern, der Breiten Straße und der Königstraße. Wohl aber - bei Niedereggers Marzipantempel gleich um die Ecke - an der Hüxstraße, der abwechslungsreichsten Shoppingmeile der Hansestadt: Kneipen, Restaurants, Galerien und 110 Geschäfte - ganz ohne H&M, Zara und andere Ketten. Dafür ein Antiquariat, wo Inhaber Olaf Adler nur zu gern über den ganz besonderen Mix dieser Straße plaudert, eine Kaffeerösterei, eine Galerie ...

Und wo lässt Lübeck die Puppen tanzen, wenn demnächst wieder die Laternen schon am frühen Nachmittag angehen? Die Kneipen- und Musikszene ist bunt. Im Jazz-Café wird mehrmals im Monat Livemusik geboten, bei Heinrich Böll an der Beckergrube hängt es sich bei Bier und Pizza und zwischen alten Schwarten recht gemütlich ab.

Wenn man die Frage allerdings wörtlich nimmt, muss man ins Figurentheater am Kolk gehen - märchenhaft! Oder ins Wasser-Marionettentheater, angeblich weltweit das einzige. Wenn es nicht gerade auf Tournee ist, schlägt es seine Bühne im Börsensaal des Rathauses auf; jede Aufführung mit überraschenden Licht- und Musikelementen darf als Gesamtkunstwerk gelten - genau wie die Stadt, zu der es gehört.