Die 90. Opernsaison in der Arena di Verona ist eröffnet: Atmosphäre und Akustik in dem drittgrößten römischen Amphitheater sind unvergleichlich.

Ein TV-Übertragungswagen steht auf der Piazza Bra, dem Hauptplatz vor der Arena. Ein ungewöhnlicher Anblick, selbst für Veroneser. Denn erstmals übertragen an diesem Sonnabendabend Sky und ORF live, was gleich hinter dem 2000 Jahre alten Mauerwerk vonstattengeht. Tausende Menschen strömen durch die verschiedenen Eingänge des Veroneser Amphitheaters - wie in eine Fußballarena. Nur tragen sie statt Trikots und Schals Opernglas, Sakko und High Heels. Die Veroneser haben wieder ihre feinsten Garderoben aus den Schränken geholt. In den umliegenden Lokalen am Platz warten die Kellner bereits mit gekühltem Champagner auf das feierfreudige Pausenpublikum. Untrügliche Zeichen: Es ist wieder so weit. Saisonauftakt in der Arena di Verona - der Höhepunkt der italienischen Opernsaison.

Es ist ein extrem lauer Sommerabend. Über 25 Grad misst das Thermometer selbst um 21.15 Uhr noch, als die "Aida"-Inszenierung beginnt. Frauen fächern sich Frischluft zu, während sie auf ihre Knie blicken, wo ihr Libretto aufgeschlagen liegt. Vereinzelt werden Wasserflaschen ausgepackt. Kameras filmen die Bühne. Am Himmel dämmert es allmählich. Als das Orchester im Graben zu spielen anhebt, scheinen Tausende Menschen den Atem anzuhalten und zu lauschen. Aus der Masse wird ein Meer aus Schweigen. Die Akustik ist fantastisch - und zwar von jedem Sitzplatz aus, egal ob Parkett oder weit oben auf den billigen Rängen. Fotohandys und Kameras klicken, während Aida, Amneris und Radames schmerzvoll über Liebe, Eifersucht und Tod singen und bei Massenszenen fast 500 Darsteller auf der Bühne stehen. Selbst Pferde sind Teil der Inszenierung. Zwischen den Reihen leuchten Leselampen auf - ganz Passionierte verfolgen den Text Zeile für Zeile mit. "Keine andere Oper steht so sehr für ein Opernhaus wie Giuseppe Verdis ,Aida' für die Arena di Verona", sagt Aurora Soldá in der Pause. Die gebürtige Veronesin ist begeisterte Opernbesucherin und lässt sich, wie sie erzählt, in keinem Jahr das Event entgehen. "Auch Menschen, die sonst nie in die Oper gehen, kommen her und schauen sich ,Aida' an," sagt Soldá. "Das gefällt mir daran so gut. Das heißt aber auch: Die Inszenierung muss einem breiten Publikum gefallen - und nicht nur den Kennern." Das Besondere: Da das Theater kein Dach hat, findet alles unter freiem Himmel statt - aufgeführt wird ohne Mikrofon und Verstärker. Dennoch sind die Stimmen klar wie die Nachtluft. Und der Blick auf die umliegenden Hügel Venetiens im Dämmerlicht gibt es in der Arena gratis dazu.

+++Ein Leben ohne Oper ist möglich, aber sinnlos+++

Im voll besetzten Zustand befinden sich auf den 45 Stufenrängen des Zuschauerraums 15 000 Gäste. Zwischen den Reihen flackern zu Beginn des ersten Aktes Tausende von Kerzen. "Bei der ersten Aufführung im Jahr 1913 gab es noch keinen Strom in der Arena. Damit Zuhörer dort ihre Librettos lesen konnten, brachten sie Kerzen von zu Hause mit", sagt Corrado Ferraro, Marketingdirektor der Arena di Verona. "So schufen sie eine ganze besondere Atmosphäre mit lauter kleinen, flackernden Punkten in der Dunkelheit. Um daran zu erinnern, verteilt einer unserer Sponsoren zu Beginn kleine Kerzen, um diese alte Tradition wieder aufleben zu lassen."

"Aida" und Arena gehören ähnlich untrennbar zusammen wie Romeo und Julia und Verona. Verdis Bestseller war die erste Oper, die 1913 in der Arena gespielt wurde. Die Stadt wollte des 100. Geburtstags des Komponisten gedenken. Ein Opernfestival-Veranstaltungsort war geboren. Dieses Jahr kann sich das Publikum auf das Orchestra dell'Arena di Verona unter der Leitung von Daniel Oren freuen. Als Solisten stehen Andrea Ulbrich (Amneris), Hui He (Aida), Marco Berti (Radames), Giacomo Prestia (Ramfis) und Ambrogio Maestri (Amonasro) auf der Bühne. Wer bis nächstes Jahr wartet, um sich "Aida" anzuschauen, muss sich auf etwas Neues gefasst machen. "2013 feiert die Stadt 100 Jahre ,Aida' - und inszeniert das Stück wesentlich moderner", sagt Corrado Ferraro.

Am Tag davor startete die Arena di Verona mit Mozarts "Don Giovanni" in die Saison. Karten für das Premierenwochenende waren bereits Wochen vorher vergeben. Elsa Fornero, Ministerin für Arbeit, Soziales und Chancengleichheit in der Regierung Monti, war unter den Gästen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Arena steht diesen Sommer eine Mozart-Oper auf dem Spielplan. In einer Neuinszenierung unter der Regie des Maestro Franco Zeffirelli ist sie fünfmal zu sehen. Erwin Schrott, der 2011 bei den Salzburger Opernfestspielen als Leporello brillierte, spielt abwechselnd mit Ildebrando D'Arcangelo den Don Giovanni.

Das Veroneser Amphitheater ist die größte Freilichtoper der Welt. Und häufig füllt es sich bis zum letzten Platz, wenn in der Dämmerung Sopran, Tenor, Bariton und Alt von der Bühne erklingen. Das Bauwerk aus dem ersten Jahrhundert nach Christus ist nicht nur sehr gut erhalten, sondern nach dem Kolosseum in Rom und dem Amphitheater Campano nahe der Stadt Santa Maria Capua Vetere das drittgrößte römische Amphitheater der Welt.

Seit 1913 wird es als Opernbühne genutzt. Weltstars, von Pavarotti bis Domingo, sind hier aufgetreten. Für andere, wie Maria Callas, war die Arena das Sprungbrett für eine internationale Karriere. Verführung in Sevilla, Hingabe am Nil, Eifersucht in Rom, Stolz im fernen China und als Krönung die ganz große Liebe in Verona - in der Arena di Verona werden 2012 erneut die bekanntesten und schönsten Liebesgeschichten der Opernwelt erzählt.

"Liebe ist das große Leitmotiv der diesjährigen Opern", sagt Marketingdirektor Corrado Ferraro, als um ein Uhr nachts die Oper zu Ende geht und die Italiener in die umliegenden Cafés und Restaurants ausströmen. Die Nacht riecht noch immer nach Hochsommer, keine Dame braucht ihren Bolero oder ihr Tuch, so warm ist es noch. Vespas knattern, Taxis werden herbeirufen. Es wird gelacht, gegessen, die Nacht zum Tag gemacht. Der Vorplatz der Arena verwandelt sich zum Laufsteg. Morgen geht der Opernzirkus weiter in der Heimatstadt von Romeo und Julia. Bis zum 2. September sind 50 Aufführungen geplant. Tagsüber werden Verliebte und all jene, die es gern mal wieder sein würden, zur Via Capello 23 in ein mittelalterliches Haus mit großem Hof pilgern. Und dort mit wasserfestem Stift an den Wänden der Casa di Giulietta ihre Liebesschwüre hinkritzeln. Hier hat angeblich Romeo auf Julia gewartet. Eigentlich wurde der berühmteste Balkon der Welt erst 350 Jahre nach Shakespeares Tragödie angebracht, also alles ein riesiger Betrug, aber das schadet der romantischen Stimmung nicht. "Se ami qualcuno, portalo a Verona": Wenn du jemanden liebst, dann bring ihn nach Verona - sagt man noch heute in Italien. Mangels Tesafilm werden hier Liebesbotschaften mit Kaugummi an die Wand geklebt oder an Autobahnbrücken gesprayt. Weil die Stadt die Liebesschwüre irgendwann leid war, ließ sie das Gekritzel sogar verbieten. Bis heute ohne Erfolg. Abends, wenn Bariton und Tenöre den Schmerz über Liebe, Eifersucht und Tod beklagen, bekommen nicht nur Opernfans weiche Knie. Dass dort, wo heute Opernarien gesungen werden, vor 2000 Jahren Gladiatoren um ihr Leben schrien, ist längst vergessen. Denn nur die Liebe zählt. In Verona auf jeden Fall.