In 29 Etappen über die Alpen. Aus eigener Kraft das mächtigste Gebirge Europas bezwingen. Eine Wanderung, die alles fordert, aber auch reich belohnt

Keuchend setze ich einen Fuß vor den anderen, kämpfe mich von einem Steinbrocken zum nächsten. Der Weg scheint endlos. Immer wieder rutsche ich auf Passagen mit lockerem Schutt ein Stück zurück. Ich fluche, wische mir den Schweiß von der Stirn. Es wird steiler und steiler. An einem im Fels befestigten Drahtseil ziehe ich mich in die Höhe und erreiche ein kleines Plateau. Nach einer kurzen Verschnaufpause geht es über Trittbügel weiter nach oben. Ich bleibe hängen, finde mit dem Fuß keinen Halt. An meinen Händen zerrt für einen Moment mein ganzes Gewicht.

Jetzt sind es nur noch ein paar Meter. Ich zwänge mich durch eine Spalte, nehme alle meine Kräfte zusammen und stemme mich nach oben. Dann stehe ich neben einem kleinen Gipfelkreuz, schaue nach links, schaue nach rechts: Berge, so weit das Auge reicht, einige Kuppen sind schneebedeckt. Die Wiesen im Tal leuchten grün. Ganz leise höre ich das Gebimmel der Kuhglocken, Schafe weiden in der Ferne. Vereinzelt umhüllen Nebelschwaden schroffe Überhänge und Felsnadeln. Ich staune und lächele. Vor mir breitet sich ein Panorama aus, das mich alle Strapazen auf der Stelle vergessen lässt - den steifen Nacken, die schmerzenden Schultern, die weichen Knie, die brennenden Oberschenkel.

Genau wie Hannibal vor mehr als 2000 Jahren bin ich aufgebrochen, zwar nicht in Begleitung von Soldaten und Kriegselefanten, sondern lediglich mit einem zehn Kilogramm schweren Rucksack und Wanderstiefeln. Meine Absichten liegen auch nicht darin, die Römer mit einem Überraschungsangriff zu überwältigen. Vielmehr geht es darum, aus eigener Kraft das mächtigste Gebirge Europas zu bezwingen. Und das heißt: einmal über die Alpen, von München nach Venedig, vom Marienplatz zum Markusplatz - Schritt für Schritt und ganz im Sinne von Goethes Worten: "Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen."

Mehr als 550 Kilometer liegen vor mir - aufgeteilt in 29 Etappen. Tägliche Auf- und Abstiege mit Höhenunterschieden von zum Teil über 1200 Metern sind keine Seltenheit. Die Strecke führt durch Deutschland, Österreich und Italien, zieht sich über Wiesenwege und durch Geröllrinnen, überquert Scharten, Grate und Gipfel, kreuzt Wildbäche und Flüsse, windet sich durch Auen und Buchenwälder. Sie erfordert Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und vor allem eine gute Kondition.

Der deutsche Bergsteiger Ludwig Graßler ging als erster diesen Weg. Nach einer langen Vorbereitungszeit und mehreren Versuchen schaffte es Graßler 1974, seinen "Traumpfad" in einem Stück zu gehen. Seitdem sind viele Wanderer dieser Nord-Süd-Überquerung der Alpen gefolgt. Doch auch wenn sich jährlich Hunderte der Herausforderung stellen, kommt es selten zu Engpässen auf dem Pfad. Nur zur Hauptsaison im Juli und August ist es ratsam, in den Hütten einen Schlafplatz zu reservieren.

Tagsüber wandert man oft alleine und ist mit sich und der Natur im Einklang. Nur ein paar Murmeltiere strecken gelegentlich neugierig ihre Köpfe aus den Erdlöchern. Mit etwas Glück sind Steinböcke und Gämsen zu sehen, und wer die Augen offen hält, entdeckt vielleicht das Wahrzeichen der Alpen: das Edelweiß. Spätnachmittags auf den Berghütten ist die Stimmung heiter. Alle sind glücklich, das selbst gesteckte Pensum geschafft zu haben. In geselliger Runde werden bei alpenländischen Spezialitäten wie Germknödel oder Kaiserschmarrn und einem Glas frischer Buttermilch die Erlebnisse der vergangenen Stunden ausgetauscht. Spätestens um 22 Uhr löscht der Hüttenwirt das Licht. Dann herrscht Ruhe, und man kann nur noch die Daumen drücken, dass man eines der "schnarchfreien" Mehrbettzimmer erwischt hat.

Maximilian, ein Einheimischer, wirft an diesem Abend einen letzten prüfenden Blick in den Nachthimmel. Dunkle Wolken haben sich vor Mond und Sterne geschoben. Der Wind frischt auf. Mich fröstelt. "Sieht nach einem Wetterumschwung aus. Die Sonnenbrillen können wir morgen wohl im Rucksack lassen. Halte lieber Handschuhe und Mütze griffbereit. Vielleicht wird es sogar schneien."

Der 43-Jährige ist in den Bergen aufgewachsen. Er weiß, wie schnell das Wetter hier wechseln kann - und zwar zu jeder Jahreszeit. Aber Schnee? Ich runzele die Stirn. Der Winter ist noch fern. Heute saß ich bei angenehmen Temperaturen im T-Shirt auf der Terrasse der Berghütte. Die Fernsicht war fantastisch, und morgen soll alles in ein "weißes Kleid" gehüllt sein? Skeptisch kuschele ich mich in meinen Schlafsack und weiß noch nicht, wie recht Maximilian behalten sollte.

Am nächsten Morgen regnet es in Strömen. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nur eine "graue Suppe". Von Bergen und Gipfeln keine Spur. Weitergehen oder lieber einen Ruhetag auf der Hütte einlegen? Doch angeblich soll es im Laufe des Tages aufklaren. Also, rein in die Regenkleidung und los geht's.

Der Weg ist rutschig. Je höher ich komme, desto kälter wird es - und plötzlich fallen die ersten Flocken. Mittlerweile zweifle ich mein Aufbrechen an, zumal es in der Ferne anfängt zu donnern. Gerade in den Bergen können schlechte Sicht, Nässe und Gewitter lebensgefährlich werden. Unentschlossen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, stapfe ich weiter. Plötzlich werden im Dunst die Konturen von Häusern sichtbar. Ich erreiche eine Alm. Ab hier ist endgültig kein Weiterkommen mehr - auch zur eigenen Sicherheit. Dichtes Schneetreiben nimmt mir jede Orientierung, ich sehe sogar Blitze zucken. Zum Glück ist die Alm bewirtschaftet. Mehrere Bauern aus dem Tal haben ihre Kühe hierher zum Weiden getrieben. Freundlicherweise gewährt man mir "Asyl".

Mit wärmendem Tee und leckeren Pflaumenknödeln im Bauch bereite ich mein Nachtlager vor - im Stall. Es ist bitterkalt, aber wenigstens trocken. Die gemütliche, warme Stube wäre für eine Extraperson viel zu klein gewesen, zudem ist eine Alm normalerweise auch nicht als Übernachtungsherberge für Wanderer gedacht. Aufgrund des Unwetters machte man dieses Mal für mich eine Ausnahme.

So schnell, wie der Schneesturm aufzog, so schnell ist er auch wieder verschwunden. Als ich die Stalltür am nächsten Morgen öffne, zeigt die Sonne ihr schönstes Gesicht, so als ob nichts gewesen wäre. Nur mit dem Unterschied, dass statt grün alles weiß ist. Die ansonsten gut sichtbaren Wegmarkierungen sind schwer zu finden. Bis der Schnee aber vollkommen weggeschmolzen ist, wird es noch dauern. Somit müssen Karte und Kompass helfen, denn die nächste Etappe steht bevor, und die Wettervorhersage für die kommenden Tage ist vielversprechend.

Zwischen vier und neun Stunden ist der München-Venedig-Geher im Durchschnitt unterwegs - und das täglich. Doch die Landschaft entschädigt: Sie verändert sich ständig und begeistert immer wieder aufs Neue. Sobald man den Großstadtlärm von München hinter sich gelassen hat, schlängelt sich der Weg entlang der Isar bis ins Alpenvorland, wo einen als Erstes die imposante Benediktenwand empfängt.

Immer tiefer geht es hinein in die grandiose Bergwelt: durchs Karwendelgebirge mit seinen fantastischen Ausblicken, vorbei an den vergletscherten Gipfeln der Zillertaler Alpen, über Almwiesen hinunter ins liebliche Pustertal, bis schließlich die ersten Felsspitzen und -türme der Dolomiten auftauchen, die zum Teil mehr als 1000 Meter senkrecht in die Höhe ragen und mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages in einem dunklen Orange zu leuchten beginnen. In der venezianischen Ebene läuft die Route aus, es wird flacher, bis man am Ende das Meer erreicht.

Dort stehe ich nun. Nach vier Wochen spüre ich statt Stein unter den Schuhsohlen Sand an meinen Füßen. Vor mir glitzert die Adria. Es ist der letzte Tag der Wanderung. Von dem kleinen Ferienort Lido di Jesolo laufe ich entlang der Küste bis Punta Sabbioni. Hier endet das Festland, und die letzten Kilometer müssen auf dem Wasserweg zurückgelegt werden - am bequemsten in einem Vaporetto, dem öffentlichen Linienschiff Venedigs.

Ich steige auf das Boot, leise knatternd setzt es sich in Bewegung. Wellen platschen gegen den Bug. Der Fahrtwind weht mir ins Gesicht, die Sonne steht tief über der Lagune. Ich blicke auf Gondeln, prunkvolle Paläste, Kirchen von Romanik bis Barock. Immer mehr Menschen säumen die Gassen, das Stimmengewirr wird lauter. Und mein Ziel, der Markusplatz mit seinen vielen Tauben und dem unverkennbaren Glockenturm, ist nur noch wenige Meter entfernt.