Nach Varanasi möchte jeder Inder kommen - bevorzugt nach seinem Ableben, damit die Asche in den Ganges gelangt.

Varanasi ist eine besondere Stadt. Das spürt auch ein Besucher aus Europa in Sekundenschnelle. Für strenggläubige Hindus ist Varanasi aber noch viel mehr. Für sie ist der Ort heilig. Und besonders natürlich der Fluss, an dem er liegt. "Wer im Ganges badet und betet, kann sich von seinen Sünden befreien", sagt der Priester am Dhasaswamedh Ghat, einer jener 64 Treppenanlagen, die entlang der sieben Kilometer langen Promenade steil zu den Badeplätzen des Ganges führen.

Doch Varanasi ist nicht nur ein ritueller Badeplatz. "Hier wollen Hindus sterben und verbrannt werden, damit ihre Asche schließlich in den Fluss gelangt", sagt der Brahmane. 20 000 Rupien, knapp 300 Euro, kostet so eine Verbrennung. Ein Vermögen. Auf 500 Rupien kommt eine staatliche Verbrennung im Krematorium. Für einen Rikschafahrer ist das immerhin noch ein karger Wochenlohn.

Mehrere Hundert Menschen bevölkern acht Sterbehäuser. Die Gläubigen sind ausschließlich nach Varanasi gekommen, um dort auf den Tod zu warten. So umgeht ein Hindu eine Warteschleife und "kommt dem Nirwana um ein Leben näher", sagt der Priester. Dass nicht Tausende oder Millionen in diesen Sterbehäusern sind, liegt daran, dass sich die ebenso gläubige wie aber auch arme Landbevölkerung eine Reise nach Varanasi gar nicht leisten kann. Die Mittelschicht schickt die Asche in die Stadt, und Reiche lassen sich rechtzeitig einfliegen, ohne aber in ein Hospiz zu gehen.

"200 Kilogramm Holz werden für einen Scheiterhaufen benötigt", sagt einer der Unberührbaren, Mitglied der niedrigsten Kaste, am Verbrennungsplatz beim Manikarnika Ghat. Nach der Verbrennung wird die Asche zusammengekratzt. "Der Tod gehört zu unserem Leben", sagt der Arbeiter.

Der Hinduismus und seine Gottheiten erscheinen für westliche Besucher manchmal wie eine Mischung aus Kult und Fantasy. Es gibt permanent Widersprüche, die jedoch nur für den Besucher als solche erscheinen. Ein Inder kennt keine Widersprüche.

In diesem Land greift alles ineinander: Leben und Tod, Gebet und Bad, Ernährung und Religion. Und so ist jeder Abend in Varanasi ein heiliger Abend - 365-mal im Jahr, auch am 24. Dezember, wenn am Dhasaswamedh Ghat und anderen Stellen am Fluss die Priester dem heiligen Ganges seine nächtliche Ruhe andienen: Feierlich mit mantrischen Gesängen, Blüten und dem Duft von Sandelholz erweisen sie dem Fluss nach Sonnenuntergang die Ehre. Der Ganges, der eigentlich eine Göttin ist, die sich wie eine Schlange ihren Weg durch die heilige Stadt der Hindus bahnt. Ist der letzte Ton verhallt und sind die Rauchschwaden aufgelöst, darf kein Boot mehr fahren und den Abend stören. Bis zum Morgengrauen, wenn die ersten Gläubigen wieder in den Fluss eintauchen und den Tag mit Gebet und ritueller Waschung beginnen.

Varanasi liegt auf einer Route, die gerne von Indien-Erstreisenden gebucht wird: Der Weg führt von Neu Delhi zum bekanntesten Monument des Landes, dem Taj Mahal, und über die religiöse Hauptstadt Varanasi in die Wirtschaftskapitale Mumbai, wo 20 Millionen Einwohner rund ein Drittel des indischen Bruttosozialprodukts erwirtschaften.

Indien ist kein einfaches Land für unerfahrene Urlauber. Und Varanasi schon gar keine einfache Stadt. Selbst der eine oder andere Asien-Kenner kann hier schon mal an seine Grenzen stoßen: ob beim Essen, im Verkehrschaos oder angesichts der bitteren Armut. Und was heißt schon Land? Indien ist ein Subkontinent auf 29 Breitengraden. Mit Frauen, die bunte Saris tragen, mit heiligen Kühen auf der Straße, heiligen Ratten in manchen Tempeln und in Trance befindlichen Sadus, mit trubeligen Märkten, viel Verkehr - und mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern. 70 Prozent von ihnen leben an oder unter der Armutsgrenze.

Varanasi ist eine Stadt des Erlebens. Man muss sich treiben lassen, in den Menschenmassen und Fahrrad-Armadas, die ein Gewühl bilden, aus dem sich ein beinahe bewundernswerter Verkehrs-Darwinismus entwickelt, bei dem jeder irgendwie antizipiert, was der andere nun tun könnte. Stehen bleiben gibt es deshalb nicht, weil man dadurch unberechenbar wird. Nur Hunde liegen und die heiligen Kühe stehen in stoischer Ruhe mitten im laut-stickigen Trubel.

In so mancher engen Gasse stinkt es - nach Kuhmist und Zivilisationsmüll, in dem die Kühe gerne stöbern. Es gibt Asketen, die nicht sprechen, aber auch selbst ernannte Gurus, die gerne die Hand aufhalten für ein Foto. Die Kunst zu Leben ist in Varanasi stets die Kunst zu Überleben, was für den Besucher so manche Grenzerfahrung mit sich bringt. Das Kastenwesen - offiziell zwar abgeschafft, aber immer noch weitgehend praktiziert - macht es jedoch möglich, dass millionenschwere Reiche und bettelarme Unberührbare nebeneinander leben, ohne dass sofort eine Revolution ausbricht. Varanasi ist eben eine besondere - eine unvergleichliche Stadt.