Wo die USA aufhören, vergoldet San Diego, die Stadt am Pazifik, jede Stunde zur Happy Hour - mit Hafen, Stränden und Old California Vibes

San Diego umarmt Fremde", sagt Ingrid, Mitte 60, und serviert uns einen köstlichen Fisch im Cajun-Style. "Jedes Jahr ziehen Tausende von Leuten hierhin, weil sie sich in die Stadt verliebt haben." Sie rückt einen Stuhl heran und setzt sich zu uns an den Fenstertisch ihres Restaurants Croce's. Vor den Panoramafenstern streunen Touristen und Geschäftsmänner, alberne Mädchen im Arm, durchs historische Gaslamp Quarter von Bar zu Bar, im milden Licht elektrisch betriebener Kopien alter Leuchten. Noch in den frühen 80ern bröckelten die 16 Blocks mit einst prächtigen viktorianischen Gebäuden - bis in den frühen 70ern Leute wie Ingrid kamen und das heutige Vorzeigeviertel mit Restaurants, Klubs und Läden reanimierten.

Damals war noch nicht so offensichtlich wie heute, warum San Diego immer wieder in der Liste der beliebtesten amerikanischen Städte auftaucht, für ein paar Urlaubstage oder auch fürs Leben. Sonnenschein tagein, tagaus floss schon immer vom Himmel - gäbe es einen Orden für das perfekte Wetter, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit einer frischen Brise vom Pazifik her, San Diego dürfte ihn sich anstecken. Aber eine dekorative Strandlage in Kalifornien haben andere auch. Die Naturschönheit im äußersten Süden, direkt über dem mexikanischen Tijuana, verschwand ein bisschen im Schatten der bekannteren Stadtschwestern: In Los Angeles leben die Stars, in Santa Barbara die Reichen und hoch im Norden, in San Francisco, die Bohemians und Umweltschützer. Und wer wohnt in San Diego?

Ingrid lacht. "Rumtreiber", sagt sie, womit sie außer sich selbst ihren zweiten Mann Jim Rock meint, einen Anwalt aus Iowa, und ihren Sohn, der heute als Musiker auch in Europa auftritt. "Drehbuchautoren, denen Los Angeles auf die Nerven geht. Surfer. Studenten. Sonnensüchtige. Rentner aus Minnesota. Und Navy-Familien natürlich."

Jon ist beides, Pensionär und Ex-Offizier auf einem Kriegsschiff. Heute steuert er an Land den Old Town Trolley - nicht zu verwechseln mit San Diego Trolley, bunt angemalten Straßenbahnen, die auf drei Linien durch die Stadt rattern. Der pseudohistorische Sightseeing-Bus hingegen fährt auf nur einer Route auch zum üppigen Strand der hübschen Halbinsel Coronado mit ihren Shops und Cafés. Als Fahrer ist Jon zugleich Entertainer und Fremdenführer, der über Mikrofon Stadtgeschichten zum Besten gibt. Nach Bedarf würzt er seine Erzählungen mit Audioeinspielungen vom Band. Am höchsten Punkt der eleganten Coronado-Brücke, die die Insel mit Downtown verbindet, lässt Jon seinen Trolley salutieren: Ein Militärmarsch schallt durch den Waggon. Die wenigen Europäer an Bord gucken einander irritiert an, die Amerikaner summen fröhlich mit. Schließlich ist ein Drittel der Pazifischen Flotte des Landes in dem großen natürlichen Hafen stationiert, inklusive Atom-U-Boote, und seit 1910 starten und landen Marine-Flieger auf der Coronado-Halbinsel. Als schwimmendes Museum liegt die "USS Midway" an der Hafenpromenade, ein gigantischer Flugzeugträger, und noch eine Reihe anderer Museen huldigt der Militärgeschichte. Viele der Holzhäuser in Coronado sind seit Jahrzehnten im Besitz von Militärangehörigen - die vor der Wiedergeburt der Stadt in den 80ern auch die Einzigen waren, die das abgelegene Nest San Diego attraktiv fanden. Wer heute hier wohnen möchte, muss sich deshalb mit Flugzeuglärm abfinden. Nicht nur der zivile Airport thront quasi mitten in der Stadt, sondern auch beim Strandspaziergang in Coronado sausen drei Maschinen dicht nebeneinander mit Getöse die luftige Rennbahn bis zur Nordspitze entlang, wo die Naval Air Station liegt. Ein Rentner, am Meer unterwegs, schwenkt begeistert seinen Krückstock.

Die Coronado-Brücke ist hoch genug, dass die Flugzeugträger unter ihrem Stahlband durchfahren können. 1969 gebaut, spannt sie sich mehr als drei Kilometer lang über die Bay. Man könnte Jons militärischen Salut auch als Hommage an die Kunst des Architekten verstehen. Von oben hat man die allerbesten Aussichten auf das mexikanische Tijuana, Downtown mit seinem als Gitter angelegten Straßenmuster und Coronado. Silberne Muschelschalen sollen dafür verantwortlich sein, dass der Sand dort glitzert, als wäre jedes einzelne Korn in Alufolie gewickelt.

Wie Cupcakes mit grüner Glasur säumen Dünen den sahnigen, unsagbar breiten Sandstrand, dahinter sprenkeln Holzhäuser die Alleen, in denen Urlauber umhersummen, bepackt mit Tüten aus Designer-Shops. "Heute schubsen wir unsere Kinder in die Welt hinaus. Coronado ist nicht das wahre Leben", sagt Jon nachdenklich, als er nach der Tour in einem Café am Ocean Boulevard eine Cola trinkt und seinen Blick über das Idyll wandern lässt. "Für mich als Teenie war es meine ganze Welt. Nur manchmal, wenn wir was erleben wollten, nahmen wir die Fähre nach drüben. Das glaubt einem keiner, aber früher war Downtown sündig und böse."

Wer heute dort durchs Gaslamp Quarter streift oder durch die mexikanisch-spanische Old Town, begegnet in Erzählungen und Broschüren immer wieder dem Wort "heritage". Die Rückbesinnung aufs historische Erbe, die Restaurierung der wunderbaren alten Häuser hat San Diego zu jedermanns Sonnenschein am Pazifik gemacht. Coronado war da Vorbild. Die Halbinsel hat ihren kostbarsten Besitz immer gehätschelt: das Hotel Del Coronado, kurz "Del" genannt, das jeder kennt, der einmal den Billy-Wilder-Film "Manche mögen's heiß" mit Marilyn Monroe als Sugar Kane gesehen hat. Das strahlend weiße Gebäude mit seinem roten Dach und den vielen Türmchen, 1888 gebaut, ist eines der wenigen verbliebenen viktorianischen Seaside Resorts des Landes und San Diegos absoluter Liebling.

70 Meilen Sandküste schmiegen sich an den Rand der Stadt. Jeder Abschnitt hat sein eigenes Publikum. Pacific Beach - PB genannt - und Ocean Beach, OB, sind beliebt bei Surfern und Bohemiens; mit Piers und Boardwalk wirken die Dörfer wie ein vergangen geglaubtes, nostalgisches Kalifornien, in dem die Lädchen Einheimischen gehören und keiner Kette und die einfachen Restaurants am Meer Crab Shack oder The Fishery heißen. Nur Starbucks als einziger Franchise-Gastronomie ist es gelungen, eine Filiale einzuschmuggeln. Die Proteste der Einheimischen dauerten lange, waren laut - aber letzten Endes vergeblich.

La Jolla im Norden ist, was die Amerikaner "upscale" nennen. Mehr noch als durch edle Restaurants und Galerien bezaubert der Vorort durch die felsige Küstenlinie voller Höhlen. Er ist beliebt bei Filmschaffenden und Literaten - Raymond Chandler zum Beispiel, der hier bis 1959 gewohnt hat und auf dem Mount Hope Cemetery beerdigt ist. Und Michael. An diesem Januarmorgen klettert er nur mit einer Badehose bekleidet von der Strandstraße die felsige Küste zum "Children's Pool" hinunter, wo seine fetten Freunde aufgeregt grunzen: Etwa 100 Seelöwen tauchen durch den Gezeitenpool oder sonnen sich am Strand, geschützt durch einen Beschluss der Stadtverwaltung.

"Ich schwimme jeden Tag hier", erzählt Michael, als er wieder aus dem Wasser steigt. Ob die Robben ihn erkennen? Er nickt. "Ich glaube schon, jedenfalls lassen sie sich von mir anfassen." Wie sein Idol Chandler ist der Autor vor der Metropole Los Angeles südwärts geflüchtet. "In San Diego kommt mir das Leben authentischer vor. Klar, in Seaworld machen sie Shows mit Killerwalen, aber es gibt auch das hier", sagt er, beugt sich zu einer kleinen feuchten Gestalt und streichelt ihr über den Kopf.

Was ist echt, was Fake? Das "Del", das aussieht wie Disneys Cinderella-Schloss, hat ein historisches Gütesiegel. Dagegen enttarnen sich einige Dünen als Kunstgeschöpfe: Vom Flugzeug aus bemerkt man, dass sie das Wort "Coronado" bilden. Doch wo Sonne und Meer so hell leuchten, dass es den Augen wehtut, haben Authentizitätsanalysen keinen Platz. San Diego will gar nichts anderes sein als das, was es ist - eine Liebe, die ihre Reichtümer mit Fremden teilt.

Der (gekürzte) Text stammt aus der neuen Ausgabe von "GEO Saison", die jetzt für fünf Euro im Handel ist