Es gilt als das Hinterstübchen Österreichs und hinkt touristisch 20 Jahre hinterher - dafür will man hier aus den Fehlern anderer Skigebiete lernen

Los geht's zum Laufsteg! Dem wohl höchsten und längsten Europas. Auf 2407 Metern beginnt er, gleich hinter der Gipfelstation des Thurntaler Sessellifts: ein Felsgrat, gut 200 Meter lang, kaum fünf Meter breit, links und rechts steil abfallende Felswände - Lawinengefahr! Auf diesem Skilauf-Steg posieren keine Thermojacken-Models, es pausieren Seh-Leute. In Superzeitlupe gleiten sie mit ihren Bretteln den Grat entlang, um sich komplett zu berauschen am 360-Grad-Panorama vor dem Horizont: Schroffe Dolomiten-Gipfel umgeben das Skigebiet oberhalb des Städtchens Sillian wie die Zacken einer riesigen, unregelmäßig gestalteten Felsenkrone. Viele davon sind Dreitausender. Insgesamt 214 davon ragen in Osttirol auf, Österreichs höchstgelegener Region. Aber nur hier, über Sillian, zeigen einige Gipfel die Uhrzeit an. Sie heißen der Reihe nach Neuner, Zehner, Elfer, Zwölfer und Einser - weil die Sonne zur entsprechenden vollen Stunde jeweils exakt über ihnen steht.

Am Ende des Schnee-Laufstegs rutschen Snowboarder und Carver in ein Skigebiet, das aus exakt einem Berg besteht, dem Thurntaler. 59 gut präparierte, meist Autobahn-breite Pistenkilometer, gibt es hier. Die sportliche Talabfahrt führt geradewegs auf die Burgruine Heinfels zu. Dort wurde - einer Sage zufolge - der Thurntaler Urban verurteilt, ein kauziger Bettler und beinahe so eine Art Taliban des 17. Jahrhunderts: Er wollte das Sillianer Tal durch Ablassen eines Sees vernichten. Der Dorfpfarrer hat es durch inständiges Beten angeblich verhindern können und so den heutigen Wintersport erst möglich gemacht an den dann doch ungefluteten Berghängen.

Hinauf führen eine Gondelbahn und Lifte, die das Prädikat "Geduldsspiel" verdienen. Nicht wegen Menschenschlangen (die sind in Osttirol fast nirgendwo zu befürchten), sondern wegen ihres Schneckentempos. Ja, die Bergbahn-Gesellschaft modernisiert und expandiert, kann aber nicht überall so, wie sie gern möchte, sagt Geschäftsführer Ulli Walder: "Wir wollten eine Piste hinunter ins Dorf Innervillgraten bauen, aber die Leute wehrten sich mit Händen und Füßen." Ein Skilift - gerade in vielen abgelegenen Alpentälern immer noch euphorisch begrüßt als eine Art Förderband für Bargeld - teilt hier das Schicksal des Hundes vor der Metzgerei: "Ich muss leider draußen bleiben".

Doch, doch - Touristen mit Brettern unter Stiefeln sind im Villgratental durchaus schon bekannt und auch willkommen, allerdings nur als Wanderer und Tourengeher. Ja, die Menschen im 700-Seelen-Flecken Innervillgraten sind etwas dickschädelig und hemmungslos rückständig - mit voller Absicht. Denn sie verdienen gut daran - bei Filmgesellschaften, die Groschenroman-Stoffe wie "Das Tal des Schweigens" drehen. In solchen Alpensagas müssen Christine Neubauer und Sascha Hehn vor Hotelburgen- und Liftmasten-freier Kulisse schmachten und schluchzen. Die dunkelbraunen Berghöfe und die schmucke Kirche sind kaum noch so unverfälscht zu finden wie in Innervillgraten.

Die Filmstoffe schrammen hier manchmal dicht an der Wirklichkeit vorbei, zum Beispiel wenn Schmuggler oder Wilderer darin vorkommen. So einer ist hier im Tal vor noch gar nicht allzu langer Zeit hinterrücks erschossen worden. Der Tod eines raubauzigen Holzfällers namens Pius Walder im Jahre 1982 bleibt in seinem Heimatort Kalkstein unvergessen, schon weil der auffällige Grabstein mit Walders Kopf inklusive Einschussloch und anklagender Inschrift daran erinnert. Ein Wallfahrtsort für Touristenbusse - Geld für Grabschmuck kommt sogar aus Neuseeland.

Wohl nicht zufällig starten in Kalkstein Gäste-Touren auf Schmugglerspuren und erinnern daran, wie die Einheimischen nach dem Krieg Zucker, Tabak und Nylonstrümpfe aus Italien illegal über die Grenze brachten. Pure Notwehr, denn Osttirol war lange (und ist für viele immer noch) das Hinterstübchen Österreichs: nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennt von Südtirol, eingeklemmt zwischen Kärnten und Salzburg, politisch zu Nordtirol gehörend, ohne Verbindung dorthin - bis zur Eröffnung des Felbertauerntunnels 1968. "Dadurch sind wir touristisch heute 20 Jahre hinterher", sagt Bergbahn-Chef und Hotelier Ulli Walder mit unglücklichem "Dackelblick", den er aber per Wimpernschlag in siegesgewisses Strahlen verwandelt: "Dafür wiederholen wir nicht die Fehler der anderen!" Ischgl-Halligalli wird es in Osttirol ebenso wenig geben wie Dörfer mit betonierten "Urlauberschließfächern".

Gäste sollen hier vor allem Ruhe haben, die ist daher erste Bürgerpflicht nach dem Skitag, vor allem aber im Umgang mit der Natur und beim Ausbau von Skigebieten. Das von St. Jakob im engen, wenig sonnenverwöhnten Defreggental am Fuße der Hohen Tauern ist, wie Sillian, klein - mit lediglich sieben Liften und Einkehr-Hütten, die den Namen noch verdienen. Erweiterung der Pisten? Derzeit nicht geplant. Ein Tal weiter und doppelt so groß: das Großglockner-Resort. Aber nur, weil die Skigebiete Kals und Matrei zusammengeschlossen wurden. Hier brennen die Oberschenkel nach einem Skitag schon mal, vor allem wenn sie die gut elf Kilometer lange Tal-Abfahrt runter nach Matrei durchstehen mussten.

Das absolute Highlight wartet genau zwischen beiden Orten, dort wo ihre Pisten zusammenstoßen - am Cimaross-Gipfel auf 2600 Meter Höhe: die Adler-Lounge, ein Riesen-Würfel aus Stahl und Glas, äußerlich eine Kreuzung aus Architektenhaus und Autohaus, drinnen mal coole Hotel-Lounge, mal kühle Kantine. Auf jeden Fall aber der Beweis: Wenn er will, kann der Osttiroler ganz schön übermütig werden. Statt auf einen Geranien-verzierten Balkon zu Schlipfkrapfen und Zirbenschnaps, lockt er hier über den Abgrund auf eine stählerne Hängebrücke namens Adlerhorst und serviert Wabenhonig-Muffins mit Scotch Whisky.

Ob Stahlsteg oder Laufsteg wie in Sillian - das Panorama wird sich nie ändern: Dreitausender, so weit das Auge reicht! Rund um die Adler-Lounge sind es 60 Stück, mittendrin der Großglockner als Superstar.