Auf der Hallig ist in den kalten Monaten nicht viel los. Um an der Nordsee wirklich Ruhe zu finden, gibt es jedoch kaum eine bessere Zeit.

Kein Motorengrollen, kein Hupen, keine Stimmen. Der salzige Wind bläst in die Leere, bringt kein Blatt zum Rascheln. Ein bisschen sieht die Landschaft aus wie ausgedacht. Plattes, grünes, baumloses Land, auf dem sich alle paar Hundert Meter Hügel hervorwölben. Darauf stehen ein oder mehrere Häuschen. Warften heißen die künstlich errichteten Erdhügel, ohne die das Leben auf der Hallig Langeneß unmöglich wäre, denn Halligen sind im Unterschied zu Inseln nicht eingedeicht. Das Ufer liegt fast auf der Höhe des Meeresspiegels, und wenn das Wasser über die Ebene hinwegrauscht und nur noch die Spitzen der Warften zu sehen sind, dann heißt es "Land unter". Das geschieht bis zu 20-mal pro Jahr.

Die Hallig Langeneß liegt vor der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste. Ein kleines Fleckchen Land aus Torf, Sand und Schlick. Sie ist die größte der insgesamt zehn Halligen im nordfriesischen Wattenmeer. 120 Einwohner, 200 Kühe und unzählige Vögel teilen sich eine Fläche von knapp zwölf Quadratkilometern. Die Langeneßer kennen sich mit Vornamen. Ein bisschen wie in einer großen Familie.

18 der insgesamt 21 Warften sind derzeit bewohnt. Auf der Hunnenswarft betreibt Familie Petersen den einzigen Kaufmannsladen, auf der Peterswarft steht ein vollautomatisch funktionierender Leuchtturm, auf der Kirchwarft haben das kleine Gotteshaus und die Halligschool ihren Platz. Zwei Lehrerinnen unterrichten hier die derzeit 14 Schüler von Klasse eins bis neun. Wer Abitur machen will, der muss eine Schule auf dem Festland besuchen.

Jeannette Borchers ist eine der Lehrerinnen. Sie wohnt gleich nebenan auf derselben Warft. Vor etwa zwei Jahren ist sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nach Langeneß gezogen. Sie haben es sich gründlich überlegt, sagt sie. Ganz einfach sei es nicht gewesen, die Rolle der Dorflehrerin zu übernehmen und einen festen Platz in der eingeschworenen Gemeinschaft zu finden. Mittlerweile aber habe sie sich an das ruhige Leben gewöhnt, genießt es, Lehrerin für die kleine Klasse zu sein. Denn von solchen Arbeitsbedingungen können viele Großstadtpädagogen bloß träumen. "Nur die Touristen", erzählt die 36-Jährige, "die glauben manchmal, wir tun nur so, als ob wir hier wirklich leben." Manchmal kämen sie direkt mit dem Fotoapparat in den Klassenraum oder auf die Terrasse der kleinen Familie gelaufen. "Einige Leute denken, wir seien Teil eines großen Freilichtmuseums." Doch jetzt in den Wintermonaten ist von Trubel keine Spur. Borchers freut sich, wenn Gäste kommen, kocht einen Pott Kaffee und plaudert gerne über ihr neues Leben, das für sie schon ganz normal geworden ist.

Wer zu Besuch auf der Hallig ist, der hat das Gefühl, dass hier die Zeit langsamer vergeht, der bemerkt Kleinigkeiten, die in der Stadt undenkbar wären. Am Wegesrand stehen Fahrräder, die nicht abgeschlossen sind, daneben ein paar Gummistiefel. "Wer sollte hier schon etwas klauen?", fragt Jonas Waldmann. Der 20-Jährige macht sein Freies Soziales Jahr (FSJ) auf der Wattenmeer-Schutzstation. "Es wüsste doch jeder sofort, wem das Rad gehört!" Bis vor Kurzem hatte ein Polizist von der benachbarten Insel Amrum hier noch eine Sprechstunde eingerichtet, dann aber schnell wieder aufgegeben. "Es passierte einfach nichts."

Jonas und seine Kollegen bieten das ganze Jahr über Wattwanderungen an. Zum Beispiel zur benachbarten Hallig Oland. Selbst, wenn der Schlick von einer Eisschicht bedeckt ist. Statt barfuß und mit Sonnenbrille geht es dann allerdings dick eingepackt und in Gummistiefeln durchs Eiswatt.

Jonas erledigt wie viele hier alles mit dem Fahrrad. Nur selten fährt mal ein Auto an einem vorbei, Busse und Taxis gibt es nicht. Besucher steigen am besten auch auf zwei Räder um, gehen zu Fuß oder lassen sich von einem vorbeifahrenden Auto bis zur nächsten Warft mitnehmen. Bei den Halligbewohnern hat das nichts mit Trampen zu tun, sondern mit selbstverständlicher Hilfe. Nach Straßennamen sucht man übrigens vergeblich. Namen tragen nur die Warften.

Ein Halligbewohner besucht in steter Regelmäßigkeit alle Warften. Es ist einer, der sich auf besondere Art fortbewegt: der Postschiffer Fiede Nissen. Nachdem er mit seinem umgebauten Rettungsboot "Störtebekker" jeden Morgen die Post, manchmal Medikamente oder im Winter auch mal einen Besucher vom Festlandhafen Schlüttsiel abgeholt hat, verteilt er sie auf die umliegenden Halligen. Nach Oland führt ein schmaler Schienendamm, den Nissen mit einer selbst gebauten motorbetriebenen Lore befährt. Nissen ist ein Unikum, er gehört zu Langeneß wie das Schlick ins Watt, viel wurde über den großen Mann mit dem Weihnachtsmannbart schon berichtet.

Seit Kurzem gibt es weitere Prominenz auf Langeneß. Auf der Mayenswarft hat Malte Karau im vergangenen Jahr das erste Vier-Sterne-Hotel, Anker's Hörn, eröffnet. "Der Vorteil ist, dass man auf einer Hallig entspannen kann, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen", sagt der 34-Jährige, der auf Langeneß aufgewachsen ist. Kein großes Konzert um die Ecke, kein Flohmarkt, kein Nachtleben. Dafür beruhigende Weite, das sanfte Grün der Gräser, der herbe Duft des Wattenmeers und salziger Wind, der einem jeden Atemzug bewusst macht.

Schon Maltes Vater betrieb eine Pension neben dem Fähranleger im Südwesten der Hallig. Und so startete Malte mit seiner Frau Virginia das gemeinsame Projekt, ein Vier-Sterne-Hotel auf der Hallig. "Die Leute haben uns am Anfang für verrückt erklärt", erinnert sich Karau. Doch das Konzept - gediegener Luxus ohne Prunk und Schnickschnack - kommt bei den Touristen gut an.

Beim Frühstück die Aussicht genießen, gemütlich den Tag planen. Ein Besuch im Halligmuseum oder in der Kirche, ein Spaziergang, eine Wattwanderung, ein Saunagang? Oder einfach nichts tun? Ein Ort, der es einem leichter macht, guten Gewissens die Beine hochzulegen, ist schwer vorstellbar.