In Neuseeland sind alle Pioniere, jeder geht seinen eigenen Weg. Und doch ist alles möglich: ganz viel Stille oder der Rausch im Extremsport.

Den Seemann sieht man ihr an. Wenngleich ganz grazil, mit den Händen in den Hosentaschen, dem zielstrebigen Blick und dem beim Gehen leicht nach vorn geneigten Oberkörper suggeriert die blonde Frau Entschlossenheit. Als müsste sie sich auch an Land gegen die Wellen stemmen. Als dürfte sich ihr niemand in den Weg stellen. Entschlossenheit gehört zum Leben von Lisa McElroy. Sie war entschlossen, nach der Trennung von ihrem Mann die Töchter Jayde und Carly allein großzuziehen. Und sie war entschlossen, eines Tages das Kapitänspatent für die "Earnslaw" in den Händen zu halten. Sie hat es geschafft. Seit zwei Jahren kommandiert die junge Frau "Die Lady vom See".

Sie ist der einzige weibliche Skipper in der Kommandantengruppe, die abwechselnd das historische Schiff über den scheinbar endlosen Lake Wakatipu steuern, ein Pionier der maritimen Emanzipation. Pioniergeist ist den Neuseeländern in die Wiege gegeben. Auch darauf ist sie stolz. Liebevoll empfängt sie die Gäste, freundschaftlich gibt sie den neun Bootsleuten die immer wiederkehrenden Anweisungen, respektvoll legt sie die Hände auf das glänzende Messing-Steuerrad auf der hölzernen Brücke. 1912 wurde das Schiff von der neuseeländischen Regierung speziell zum Befahren des 80 Kilometer langen Sees im äußersten Südwesten der Region Otago mit Standort Queenstown gebaut, doch wenn Lisa McElroy am Steuer steht, gewinnt man den Eindruck, es sei für sie vom Stapel gelaufen. "Ich liebe Boote, ich liebe das Meer und diesen See", sagt sie mit Feuer in den Augen und erzählt von privaten Segeltörns mit ihren Kindern, um alle Probleme hinter sich zu lassen.

Langweilig wird es hier an Deck nie, "der See sieht jeden Tag anders aus", und überhaupt sei Queenstown der schönste Ort der Welt. Wenn der alte Dampfer seine Bahn zieht und unten am Klavier Besucher aus allen Herren Ländern alte englische Lieder singen, schaut die Skipperin auf das Wasser und die Berge. Still ist es, vom leichten Wind abgesehen, der den Dampf ihrer Kaffeetasse wegzieht, und wenn man sich nur richtig konzentriert, meint man tatsächlich, Gandalf und Aragorn aus "Herr der Ringe" am Ufer auf ihren Pferden zu sehen. "Ich hatte diesen Traum vom Kommando über dieses Schiff", sagte Lisa. "Träume muss man leben, wir Neuseeländer sind Pioniere."

Dieser Pioniergeist ist belegt. Als zweites Land überhaupt führte Neuseeland bereits 1893 das Frauenwahlrecht ein. 1953 bestieg Sir Edmund Hillary als Erster den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest im Himalaja, in der Gegenwart macht das schönste Ende der Welt mit seiner Ankündigung bei anderen Ländern Eindruck, bis 2025 mindestens 90 Prozent seines Strombedarfs aus erneuerbaren Energien zu decken. Auch in puncto Irrsinn hat sich Neuseeland international einen Namen gemacht und arbeitet stetig am Erhalt dieses Rufes. Da scheint es kein Wunder, dass gerade die Gegend um Queenstown zum Treff von Extremsportlern und Verrückten geworden ist. Als simpler Bergsteiger gilt man hier auf der Südinsel beinahe schon als Spießer. Der "Irre" von heute stürzt sich 43 Meter von einer Hängebrücke einem Gebirgsfluss entgegen, um in letzter Sekunde von einem Gummiseil gestoppt zu werden. Bungee wird dieser Sport genannt, wie heute jeder weiß. Henry van Asch gilt weltweit als Erfinder dieser angeblich "süchtig machenden Angelegenheit" und kann seine eigenen Sprünge gar nicht mehr zählen. Bei 1000 habe er damit aufgehört. Er sprang mit Stühlen, auf dem Fahrrad, zusammen mit Freunden und manchmal einfach so vor dem Frühstück. "Man lebt in diesen Momenten sehr intensiv", sagt der Geschäftsmann, der in seinem Leben alles erreicht hat und seine weitere berufliche Zukunft damit umschreibt, sich um seine vier Kinder kümmern zu wollen. Ein Weingut hat er jetzt noch gegründet, unweit seiner Bungee-Station lädt er in einem Cottage zur Probe ein und berichtet, in Jeans und Holzfällerhemd gekleidet, dass der Neuseeländer eben irgendwie anders sei. Man habe im Vergleich zu anderen Ländern sehr frühzeitig erkannt, im Paradies zu leben und dieses erhalten zu müssen. Man brauche keine Wälder zu roden, um Spaß zu haben. "Ein Gummiseil und ein Berg reichen."

Ein paar Kilometer weiter kommen Geschwindigkeitsjunkies auf ihre Kosten. Für 119 neuseeländische Dollar (ca. 65 Euro) wird man mit Regenjacke und Rettungsweste ausgestattet und anschließend von erfahrenen Bootsführern mit 60 Stundenkilometern im Shotover-Jet über den Gebirgsfluss gejagt. Ziel des Thrills ist es, bei diesem atemberaubenden Tempo so nahe wie möglich an die Felsen heranzukommen, und gemeint sind wenige Zentimeter. Wayne Paton, Spitzname Doctor, jagt seit 1999 professionell über den Fluss. Und wenn der von der Fahrt in einem Ferrari träumende Neuseeländer mit Vollgas auf die Klippe zurast und eine kreisende Bewegung mit dem Arm macht, kündigt er eine 360-Grad-Drehung an. "That was a good one", sagt er und grinst. Selbst bei diesem martialischen Freizeitvergnügen achtet man - so gut es geht - auf den Naturschutz. Das Boot wird nicht von einem Propeller angetrieben, sondern durch das Ansaugen und Herauspressen von Wassermassen. Tiefgang gerade 30 Zentimeter, das schont die Laichgründe.

Ortswechsel: Vier Stunden dauert die Überfahrt von Picton auf der Südinsel nach Wellington auf der Nordinsel. "The windy City" nennen die Einheimischen ihre Stadt, weil vom Meer her immer eine Brise weht und auch in der sommerlichen Hitze für angenehme Kühle sorgt. In den Hügeln Wellingtons liegt der Freizeitpark "Zealandia". In dem früheren Wasserreservoir der Stadt wurde ein Naturzentrum errichtet, in dem der Besucher Neuseeland so präsentiert bekommt, wie es vor mehr als einer Million Jahren ausgesehen hat, als es nur von Vögeln und wenigen Kriechtieren bevölkert war. Zur Nachtzeit mit Infrarot-Taschenlampen ausgerüstet, werden die Kunden von geschulten Führern durch die Wälder geführt, und mit Glück begegnet man sogar dem flugunfähigen Kiwi - nachdem jeder einzelne Besucher in einer vergitterten Schleuse nach Mäusen und anderen Tieren durchsucht wird, die sich versehentlich im Gepäck verirrt haben und immensen Schaden für diese Form des Wildlebens haben könnten. Selbst Hundedreck unter den Schuhen, so die Führerin Carolyn, sei gefährlich. Dann hebt sie den Finger und mahnt zur Ruhe. "Was hört ihr?", fragt sie. "Nichts", bekommt sie zur Antwort, und dann lächelt sie. "Seht ihr, und wir sind in der Hauptstadt. Das nenne ich Frieden."

Seinen Frieden hat auch der Niederländer Anton Haagh gefunden. Er kaufte mit seiner Frau das traditionelle Hotel "Duke of Marlborough" am Strand von Russell in der Bay of Islands, der ersten Hauptstadt Neuseelands. Die Stadt hat man in fünf Minuten durchlaufen, jeder kennt jeden, und jeder lässt seinen Schlüssel im Auto stecken, wenn er zu Hause ankommt. Hier herrsche Frieden pur, erzählt Anton und zapft sich und dem Gast ein Bier. "Dieses Hotel war der erste lizenzierte Pub von Neuseeland, in dem Alkohol verkauft werden durfte", sagt der Niederländer. "Ehrensache, dass ich da einsteigen musste. In diesen Brettern und diesem Ort steckt so viel Pioniergeist, sie hätten so viele Geschichten zu erzählen." Von den Briten, die nicht weit entfernt mit den Maori den Vertrag von Waitangi am 6. Februar 1840 schlossen. Von dem Künstler Friedensreich Hundertwasser, der in der Bay of Islands die öffentlichen Toilettenhäuschen bemalte. Vom jährlichen Schwertfisch-Angelwettbewerb, dessen Sieger im ortansässigen Klub auf einer Messing-Tafel verewigt wird, neben Fotos von den Fängen vor 80 und mehr Jahren.

Irgendwie scheint jeder in Neuseeland eben dieses Pionierwesen in sich zu haben. Wie auch die 68-jährige Taxifahrerin Renata Dealy-Glock, die mit schwäbischem Dialekt von der Heimat spricht und der Auswanderung als Kind mit Mutter und Großmutter per Schiff über Italien und Australien nach Wellington, wo sie schließlich ihren irischen Mann kennenlernte. "Jeder ist hier seines eigenen Glückes Schmied. Setz dich ins Auto, fahr zum Surfstrand nach Raglan, schnapp dir ein Board und eine gute Welle und werde glücklich. Niemand wird dir reinreden." Sie hatte recht. Am Strand war kaum jemand, nur die Wellenreiter im Wasser. Jeder ging seinen eigenen Weg. Wie alle hier.