Nur für Touristen leben die Ureinwohner des Titicacasees heute wieder auf dem Wasser. Das Interesse hat die Kultur vor dem Untergang bewahrt.

Er wohnt auf einem schwimmenden Haufen Schilf. Hier ist der Häuptling mit sich zufrieden, hier gehört er hin, mitten auf den höchsten See der Welt. Wie vor Tausenden Jahren lebt sein Volk wieder im Einklang mit dem Wasser und der Natur. Der Häuptling setzt sich seinen Sonnenhut aus Schilf auf den Kopf, streckt ein Bein aus seiner Hütte aus Schilf und lässt den Blick weit schweifen über den Titicacasee und auf die ewig schneebedeckten Gipfel der Anden im Hintergrund. Alles ist so, wie es sein soll.

Plötzlich stört eine blecherne Stimme die Ruhe des Häuptlings. Es ist nicht seine Frau, die aus der Hütte schreit - nein, es ist sein Funkgerät: "Lorenzo!", ruft die Stimme, "Melde dich bitte." "Das ist für mich, Sie entschuldigen mich für einen Augenblick", sagt Häuptling Lorenzo, schlägt seinen Alpaka-Schal über die Schulter, rückt sich seinen rosa-blau-grün-gestreiften Brustbeutel aus Lama-Wolle zurecht und schreitet zurück in seine Hütte.

Wir sind in Bolivien, zu Hause bei den Ureinwohnern. Sie nennen sich Urus, leben seit mehr als 4500 Jahren hier am Titicacasee und haben eine unglaubliche und weltweit einzigartige Kultur geschaffen: Sie bauen sich Inseln aus Schilf und leben auf ihnen. Zumindest taten sie das in den vergangenen 1000 Jahren - bis die Elektrizität an den Titicacasee kam. Für Fernsehen, Waschmaschinen und die Verlockungen der Moderne verließen die Urus vor Jahrzehnten das Wasser und siedelten am Ufer, am Abfluss des Sees.

Jetzt will Häuptling Lorenzo, dass ausgerechnet eine Erfindung dieser modernen Zeit seine urtümliche Kultur rettet. Der Massentourismus und somit das Geld aus den Händen der Touristen soll das Leben auf dem See wieder attraktiv machen.

15 Urlauber aus Deutschland sind für den nächsten Tag angekündigt - das hat Lorenzo gerade am Funkgerät erfahren, von der Reiseagentur, die den Häuptling jetzt exklusiv unter Vertrag hat. 64 Jahre ist Lorenzo alt, als Kind hatte er das Glück, eine Schule besuchen zu dürfen. Er spricht die Uru-Sprache Pukina; außerdem Ketschua, die Sprache der Inka-Nachfahren; Aymara und Spanisch, weitere Amtssprachen in Bolivien. Das schafft Respekt, Anerkennung und seine unangefochtene Position als Häuptling. Seine Idee, Touristen als Retter einer fast verschwundenen Kultur zu Hilfe zu rufen, klingt im ersten Moment verrückt; doch niemand hier zweifelt daran, dass Lorenzo recht behalten wird.

Wie zum Beweis zeigt er auf die andere Seite der Grenze, die quer durch den Titicacasee läuft und Bolivien von Peru trennt: In Peru, nahe der Stadt Puno, schwimmt eine riesige Uru-Siedlung auf dem Wasser. 2500 Menschen leben auf 45 selbstgebauten Inseln, jede mindestens so groß wie ein Tennisfeld. Die Uru-Frauen tragen ihre breiten Röcke in den grellsten Farben, die sie aus zerriebenen Samen und Schildläusen gewinnen konnten. Die Touristen kommen im Akkord, neugierig strecken sie ihre Köpfe in die Hütten und entdecken Matratzen auf dem Schilfboden, daneben einen Haufen normaler Alltags-Kleider und ganz obendrauf - einen Fernseher.

Die meisten Familien haben sich schon Solarzellen geleistet und neben ihren Hütten aufgebaut. Währenddessen rudern zwei Urus auf einem Schilf-Katamaran, zwischen den beiden Schiffsrümpfen haben sie ein Podest befestigt, auf dem sich ein Dutzend amerikanischer Touristen befindet. Die Urus von Peru sind gut im Geschäft: Seit Sonnenaufgang legt ein Touristen-Schiff nach dem anderen am Hafen von Puno ab. Jeden Tag kommen Hunderte, manchmal Tausende Besucher auf die peruanischen Uru-Inseln.

Ein lebendiges Geschäft mit einer lebendigen Kultur, und die halten die Urus - das geben sie selbst zu - nur noch für die Touristen am Leben. Einige kehren sogar abends, wenn der Trubel vorbei ist, in ihre Wohnungen in der Stadt zurück. Das klingt traurig. Doch Lorenzo sagt: "Unsinn! Ganz im Gegenteil! Ohne euch Touristen wäre unsere Kultur tot. Eine Kultur nur für die Touristen - und nur noch dank der Touristen. Endlich einmal zerstört der Massentourismus nichts, sondern er belebt etwas. Er belebt eine Kultur, die nicht mehr existiert hat."

Deshalb hat Lorenzo es jetzt auch endgültig satt. Er will ein Leben wie seine Nachbarn auf der anderen Seite des Sees, mit Bildung für die Kinder und einem Sanitätskasten. "Das steht uns auch zu, und nicht nur denen in Puno", sagt Lorenzo. Er will endlich die Aufmerksamkeit, die er verdient - und das heißt für Lorenzo mindestens so viel Ruhm, wie die peruanischen Nachbarn abbekommen. Sie müssen nicht, wie Lorenzos Stamm, verarmt am schlammigen Abfluss des Titicaca-Sees leben; Männer arbeitslos, Frauen prostituiert. Denn Lorenzo will wirklich ganz zurück aufs Wasser.

Wann genau die Urus von Bolivien das Wasser verlassen haben, hat der Häuptling vergessen. Aber wie er sie wieder zurückgeführt hat, das hat sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt: Vor knapp zwei Jahren sitzt Häuptling Lorenzo im Büro von Darius Morgan, großer Schreibtisch, großes Fenster direkt am See. Der Reiseagent könnte fast von seinem Büro ins Wasser springen. Er macht dem Häuptling ein Angebot, das dieser nicht ablehnen kann: Ein eigenes Boot, einen Sanitätskasten und ein alten Haufen Schilf, den er auf dem See gefunden hat und den er dem Häuptling als dessen neues Zuhause anbietet: "Lorenzo, bist du bereit, aufs Wasser zurückzugehen? Kannst du das?" Diese Frage lässt sich Lorenzo nicht zweimal stellen: "Ja, ich bin bereit", ist das Einzige, was er sagt. Und damit ist die Rückkehr aufs Wasser besiegelt. Ein historischer Moment.

Kurze Zeit später zog Lorenzo dann auf die Schilfinsel, mit seiner Familie und der seines Schwiegersohns Ricardo: Zwei von 32 Familien, die zu Lorenzos Stamm gehören, sind jetzt die Stammbelegschaft für das neue Touristen-Projekt in Bolivien.

Das Tragflügelboot mit den Gästen aus Deutschland peitscht über die Wellen des Titicacasees, während der Häuptling seine Tracht anlegt: Hut, Schal, Alpaka-Beutel. Am Ufer hat er schon seine Frauen in deren neon-grellen Kleidern aufgestellt - das hat er sich von den Urus in Peru abgeschaut. Sie klatschen in die Hände und summen Melodien, zu denen Lorenzo auf Pukina singt, daneben steht sein Enkel und hilft den Gästen beim Sprung vom Boot auf die Insel.

Sie setzen sich in einen Kreis, und Lorenzo beginnt zu erzählen: Es ist jetzt Winter, und im höchsten See der Welt traut sich sogar der Häuptling niemals, schwimmen zu gehen. An keinem Tag im Jahr wird das Wasser wärmer als zwölf Grad. Lorenzos Hütte schwimmt auf lebensfeindlichem Gebiet, Krankheiten, Rheuma und Lungenentzündungen setzen den Urus zu, Inzucht und Unterernährung tun ihr Übriges.

Landwirtschaft haben die Urus nie betrieben, Lorenzo und sein Schwiegersohn jagen Fische, die Frauen sammeln Eier im Schilf. Und trotzdem, sie sind gekommen, um zu bleiben, Lorenzo und seine zwei Familien halten die Stellung - und das alles für 15 Touristen. Die Ältesten der Urus knien vor ihren tiefen Holztischen, auf denen sie Miniatur-Schilfboote anpreisen, daneben Alpaka-Ohrwärmer und -Handschuhe. Die Familien leben vom Gewinn, den sie über die Souvenir-Verkäufe erzielen - und von den Spenden, die ihnen Urlauber lassen. Sonst haben sie nichts. Über eine Beteiligung am Preis für die Tagestour haben Lorenzo und Morgan an diesem denkwürdigen Tag im Büro nicht gesprochen. Der Häuptling hat sich übers Ohr hauen lassen.

"Wir sind scheue Menschen. Wir haben keine Waffen. Wir gehen lieber, als den Kampf zu suchen", sagt Lorenzo, wenn er erklärt, warum die Urus in historischen Zeiten überhaupt aufs Wasser gezogen sind. "Als wir auf dem Titicacasee lebten, wollte niemand etwas von uns. Hier mussten wir nicht weglaufen, das war lange bevor die Inka oder die Spanier das Land hier erobert haben."

Umso erstaunlicher, dass Lorenzos Schwiegersohn Ricardo seine Scheu abgelegt hat. "Schaut her", sagt er, als er in den Sitzkreis kommt und einen Kühlschrank-großen schwarzen Brocken mit aller Kraft ein paar Zentimeter in die Luft hebt. "Das ist ein Klumpen mit Schilf-Wurzeln - das Fundament einer jeden Uru-Insel. Den hab ich dort hinten ausgegraben. Als Bodenbelag kommen dann immer wieder Schilfhalme drauf." Totora-Schilf, dessen dunkelgrüne Stängel so dick werden wie ein Daumen und zwei bis drei Meter hoch. "So reparieren wir auch alle zwei Wochen unsere Inseln, einfach immer mehr Schilf oben drauf" - bis alles eines Tages zu schwer wird und untergeht. Drei bis zehn Jahre hält eine Uru-Insel. "Wenn wir nur noch eine Schilfhalm-Breite über dem See schwimmen, ist die Zeit gekommen." Dann packen die Urus ihre Sachen, versenken die Insel - und machen sich an den Bau einer neuen.