Chinas alte Kaiserstadt Hangzhou ist immer für eine Überraschung gut - auch beim Essen. Verspeist wird fast alles, was vier Beine hat.

Bei uns gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft", erklärt Yao Zheng. Es heiße also: Gestern esse ich Fischkopf mit Tofu, morgen esse ich Westsee-Karpfen - anstatt "ich habe gegessen" oder "ich werde essen". "Chinesische Grammatik ist ganz einfach", fügt die Führerin in perfektem Deutsch hinzu, als wolle sie uns das Erlernen der Sprache schmackhaft machen. Vielleicht hat sie auch die Szenerie am Ufer des Westsees zu diesem Exkurs inspiriert. "Fische beobachten an der Blumenbucht" wird die Gartenanlage aus der Song-Dynastie genannt, durch die wir gerade auf dem Weg zum Schiffsanleger schreiten. Außer uns dreien sind viele andere Touristen unterwegs, zumeist Gruppen mit roten Fähnchen oder Regenschirmen vorneweg. Und alle wollen aufs Boot.

Die alte Kaiserstadt Hangzhou - mit knapp sieben Millionen Einwohnern eher eine Kleinstadt in China - liegt von Shanghai nur einen Katzensprung entfernt. Der Hochgeschwindigkeitszug bewältigt die 200 Kilometer lange Strecke in einer Dreiviertelstunde. 48 Millionen Besucher, darunter drei Millionen Ausländer, kommen jedes Jahr nach Hangzhou. Womöglich werden es noch ein paar mehr, denn seit Juni zählt der 5,6 km² große Westsee zum Weltkulturerbe. Den Chinesen gilt er schon lange als Paradies auf Erden, woran die romantischen Liebesgeschichten, die sich um den See ranken, nicht ganz unschuldig sind. Jeder Wanderarbeiter ist mit diesem Paradies schon in Berührung gekommen, denn auf der Rückseite des 1-Yuan-Scheins ist das Westsee-Motiv "Drei Tiefen, die den Mond spiegeln" abgebildet.

Am Bootsanleger lösen sich die Menschenmassen schnell auf. Eine ganze Flotte Elektroboote steht für eine Seerundfahrt bereit. Nur schade, dass es an diesem Tag bedeckt ist. Auf den bewaldeten Hügelkuppen wabern sogar Wolken. "Für Chinesen das Idealbild einer Landschaft", verblüfft uns Zheng. Sonne und blauer Himmel würden die Harmonie der Natur nur zerstören.

Ganz China beneidet Hangzhou um den Westsee mit seinen künstlichen Inseln, den malerischen Pavillons und Pagoden. Kein Wunder, dass er gleich 36-mal kopiert wurde. Die Landschaft ringsum ist aber ein Unikat. Denn hier wächst der Longjing, der grüne Drachenbrunnen-Tee, den Chinesen so gern trinken. Ab Ende März, wenn auch die Pfirsiche zu blühen beginnen, werden die Teeblätter von Frauenhand geerntet. Bis zu 300 Yuan, etwa 30 Euro, kann man für 125 Gramm höchster Qualität bezahlen. Die Teehäuser am Seeufer laden zum Probieren ein. Auch Tee-Restaurants sind bei Einheimischen beliebt. Zumal das Heißgetränk allemal bekömmlicher ist als Reisschnaps oder Tsingtao-Bier. Am 1. Mai ist ein neues Gesetz zum Alkohol am Steuer in Kraft getreten. Wer betrunken den Tod eines Menschen verursacht, muss mit der Todesstrafe rechnen, war in der "China Daily" zu lesen.

Tee und auch Seide sind schöne Mitbringsel aus Hangzhou. Gleich hinter dem Trommelturm öffnet sich die Altstadt mit vielen bunten Läden in der großen Fußgängerzone. Die Hausfassaden aus Holz und Stein spiegeln die Architektur der Jahrhundertwende wieder. Dafür wurde die Altstadt komplett rekonstruiert. Nur die Apotheke in einem Palast aus der Qing-Dynastie stammt original aus dem Jahr 1874.

Wohl nirgendwo sonst in China sind Restaurants so dicht gesät wie im alten Viertel von Hangzhou. In der Gaoyin Street zum Beispiel, parallel zur quirligen Hefang Jie, reiht sich ein Lokal ans andere. Alle Facetten der chinesischen Küche kann man dort probieren. Zusätzlich werden am Abend entlang der Zongshan Road Garküchen aufgebaut, damit der Chinese nicht verhungert. Die 35-jährige Yao Zheng, die einmal für zwei Wochen durch Europa getourt ist, war von Deutschland begeistert. Nur die Küche kam ihr ein wenig langweilig vor. In China sei die Vielfalt größer. Hier werde nahezu alles gegessen, was fliegt, schwimmt oder vier Beine hat. "Hund aber nur im Winter", versichert sie und lächelt verschmitzt. Alle Tiere, die im Wok landen, würden zuvor gezüchtet. "Haustierbesitzer können unbesorgt sein."

Essen bedeutet für Chinesen Glückseligkeit. Gemäß Konfuzius trägt der Genuss zu Harmonie und Frieden bei. "Ni chi fan le ma?" - Hast du heute schon gegessen? - lautet nicht von ungefähr die gängige Begrüßungsformel. In Guilin, zwei Flugstunden von Hangzhou, haben wir im Hotel die Wahl zwischen Continental Breakfast und chinesischem Frühstücksbüfett. Inzwischen beherrschen wir den Umgang mit Essstäbchen ganz gut und trauen uns in den Saal mit den großen runden Tischen. Allein zu essen käme einem Chinesen nämlich nicht in den Sinn. Kaum zu glauben, was am Morgen alles aufgefahren wird. Am langen Büfett köcheln geheimnisvolle Speisen vor sich hin. Frittierte Hühnerfüße können wir immerhin ausmachen. Gäste stellen sich an für eine Nudelsuppe, die nach individuellen Wünschen zubereitet wird. Teller werden mit gefüllten Teigtaschen, tausendjährigen Eiern, Sprossen, Tofu, Süßkartoffeln, frischen Bambus und Wasserkastanien beladen.

Beim Essen schlürfen und schmatzen sei schon okay, hatte uns Zheng noch mit auf den Weg gegeben. Naseputzen bei Tisch ginge hingegen überhaupt nicht. "Der Chinese kann dann nicht mehr essen", sagte sie, und es klang, als könne das den Weltfrieden gefährden. Was passiert, wenn uns der Chili die Tränen in die Augen treibt und die Nase zu laufen beginnt? Man sich womöglich an einem Stück scharfer Schlange vergreift? Zum Glück war diese mit Pfeffer, Schalotten, Ingwer und Dreiblumen-Likör gewürzte Spezialität auf dem Frühstücksbüfett nicht vertreten.

Qin Xi Li, unser Führer in Guilin, versucht uns zu trösten. Während der Schiffsfahrt auf dem Li-Fluss hätten wir gewiss Gelegenheit, wenigstens einen Schlangenschnaps zu kosten - ein Gebräu, das sich als Reisschnaps mit eingelegter Giftschlange entlarvt. Sein Großvater trinke jeden Tag davon ein Gläschen und sei schon uralt.

Die Provinz Guangxi im subtropischen Südosten ist für viele der Höhepunkt einer China-Reise. Als sich vor 300 Millionen Jahren der Meeresboden nach oben drückte, kam ein Kalkgebirge zutage. Die Erosion tat ein Übriges und feilte das Gestein zu Türmen, Nadeln und Kegeln. Der Lijiang hat sich auf dem Weg zum Perlfluss durch die bizarre Turmkarstlandschaft gegraben. Der spektakulärste Abschnitt liegt zwischen Guilin und Yangshuo. Vier Stunden braucht das Schiff für die 83 Kilometer lange Strecke. Allerdings folgt eine ganze Schiffskarawane dem mäandernden Lauf des Flusses. In China ist man nirgendwo allein.

Fantastisch geformte Berge türmen sich über dem jadegrünen Lijiang. Bambushaine, Lotus- und Reisfelder säumen das Ufer. Auf Weiden grasen Wasserbüffel. Frauen waschen Wäsche und Geschirr im Fluss. Kormorane auf Bootsstegen. Xi Li zückt einen 20-Yuan-Schein und zeigt auf die Kormoranfischer. Am Abend kommen die Vögel an die Leine und werden zu Gehilfen der Fischer. Die Hälse werden abgebunden, damit sie die Beute nicht verschlingen. Mit Zunahme des Tourismus verschwindet langsam aber sicher die alte Tradition. Es lässt sich auch Geld verdienen, wenn man sich auf dem schmalen Bambusfloß mit einem Kormoran auf dem Arm fotografieren lässt ...

Bei Ankunft in Yangshuo regnet es in Strömen. Wir flüchten in ein Restaurant und studieren die Speisekarte. Eine Hühnersuppe mit Papaya wäre doch nicht schlecht. Als das Gericht serviert wird, trauen wir unseren Augen nicht und fangen dann schallend an zu lachen. Hühnerfüße samt Krallen hatten wir schon auf dem Frühstücksbüfett gesehen. Doch diesmal liegen sie nicht in einer gnädig braunen Soße, sondern schwimmen kreidebleich in einer klaren Brühe. Konfuzius bringt es auf den Punkt: "Der echte Reisende ist immer ein Landstreicher - mit Freude, Versuchungen und Abenteuerlust."