Auf dem größten Viehmarkt der Welt wechseln täglich bis zu 12 000 argentinische Rinder den Besitzer - und das mitten in Buenos Aires.

Die Kuh Evita steht zwei Meter unter Patricios Füßen, zusammengepfercht neben Hunderten Rindern. 390 Kilogramm wiegt sie, recht leicht für eine Kuh. "Schön jung", ruft Patricio Mac Grath durch das Megafon, "ihr Fleisch ist rot wie die Glut des Holzes." Neben ihm beginnen alte Männer mit ihren Händen zu schütteln, ausgeklügelte Handzeichen, jeweils Hundertstel Peso mehr für ein Kilo Kuh. Wir sind auf dem größten Viehmarkt der Welt, mitten in Buenos Aires, auf dem "Mercado de Liniers". An guten Tagen wechseln hier 12 000 argentinische Rinder ihren Besitzer - ein verrückter Ort und einer mit Tradition: Dieses Jahr feiert der Mercado sein 110-jähriges Bestehen.

Holzzäune zerteilen das knapp 50 Fußballfelder große Gelände in 2000 einzelne Boxen. Evita teilt sich ihren Verschlag mit 19 Artgenossen - eingepfercht auf 25 Quadratmetern: Rücken neben Rücken, ihr Kopf reibt am Hinterteil ihrer Kollegin. Evita hat keinen Platz sich zu bewegen; sie ist zu schwach, das Gatter aufzutreten; zu müde, um noch einmal zu muhen. Ein dichtes Netz aus Stegen überspannt den Mercado, über die Patricio Mac Grath die Viehhändler scheucht, von Holzverschlag zu Holzverschlag, zwei Meter über der Erde. Jeder Pfad ist nicht breiter als einen Meter.

Flanellhemd, rotes Haar und blaue Augen, Mac Grath ist Argentinier mit irischen Ahnen. Mit 21 Jahren hat ihn der Mercado als Auktionator eingestellt, jetzt ist er vier Jahre älter. 800 Tiere versteigert alleine Mac Grath am Tag. Zehn Stunden, manchmal zwölf arbeitet er hier. Evita ist ein Tier von besonderer Qualität, ein braunes Hereford-Rind mit weißem Kopf, "sie hat nur Gras gefressen, keine Chemikalien oder Medikamente, meine Herren, ich will 6,7 Peso hören" - umgerechnet 1,11 Euro für ein Kilo von ihr. Mac Grath lockt die Händler, er treibt den Preis, drei Prozent Provision fließen direkt in die Kassen des Mercado. "Ich darf es aber nicht übertreiben. Wir sind hier alle Experten, wenn ich lüge, dann merkt das sofort einer. Und dann glauben die mir nie wieder etwas."

Über 60 Kilogramm Rind verzehrt ein Argentinier im Jahr. Zum Vergleich: Deutsche schaffen gerade 15 Kilo. In keinem Land der Erde wird mehr Rindfleisch gegessen - und wohl keines züchtet bessere Steaks. Darauf sind die Argentinier stolz. Und so fällt an jeder Straßenecke in Buenos Aires der Blick durch ein Schaufenster: Über der Glut der Holzscheite ruht ein Parrilla, ein Grillrost, der so groß ist wie das Schaufenster selbst. Kein Quadratzentimeter soll frei bleiben. So eng, wie Evita und Co. auf dem Mercado in ihrer Box zusammenstehen, so eng liegen die Blutwürste, Steaks und Innereien aneinander. Die heißen Fett-Tropfen spritzen von Hüftsteak zu Brustfilet.

Beim "Asado", dem traditionell argentinischen Grillfest, lernen Touristen zum ersten Mal im Leben, Fleisch zu grillen: Stundenlang muss das Steak auf dem Rost verharren. Langsam soll es garen, denn nur dann verwandelt sich das Fett in Zucker, und der gibt dem Fleisch sein besonderes Aroma. Der Kellner serviert bife de chorizo, das famose Rumpsteak aus dem Rinderrücken, braun und rot und heiß. Keine Pommes, keine gestampften Karotten oder verkochten Kartoffeln, nichts, höchstens ein wenig Salz. Die besten Dinge im Leben genießt man eben ohne alles.

Es donnert, so laut schlägt Mac Grath mit einer Eisenstange auf das Metallgeländer im Mercado ein. Die Streben übertragen die Vibrationen. "Verkauft!" Kuh Evita gehört jetzt einem Großhändler in beigefarbener Stoffhose und mit Filz-Barett auf dem Kopf. Sein fülliger Oberkörper steckt in einem Pullunder. Auf seiner Kundenliste stehen Restaurants in ganz Buenos Aires. Andere Händler füllen die Lagerhallen von Supermarktketten oder kaufen für ihre eigene Metzgerei, die sie zwei Häuserblöcke weiter betreiben. Kühe sind hier Meterware. Der Händler interessiert sich nicht für Evita, "ich sehe nur das Fleisch auf dem Boden stehen", insgesamt 8,5 Tonnen, wie eine einheitliche Masse. Niemand hat Evita je einen Namen gegeben, nur der Journalist, der ihr zu lange in die Augen geschaut hat.

Rindfleisch ist eine Delikatesse für das Volk: 2200 Peso, umgerechnet 370 Euro kostet Evita - ein Schnäppchen, hierzulande wäre sie knapp 1000 Euro wert gewesen. Wenn sich die Armen in Argentinien ihr Steak nicht mehr leisten können, dann ist der soziale Notstand ausgebrochen, und die Regierung muss einschreiten. Davor fürchtet sich Mac Grath. Festgesetzte Preise sind sein Albtraum, dann ist er arbeitslos. Vor fünf Jahren war das der Fall, damals kontrollierte die Regierung die Preise, mehrere Wochen lang. Zu hoch seien sie gewesen. Auch der Mercado in Buenos Aires geriet in Verdacht - mit manipulierten Versteigerungen, die die Preise in die Höhe getrieben hätten. Damals ritten die Arbeiter auf Pferden vor den pompösen Eingang und hielten aufgebrachte Arbeitslose davon ab, den Markt zu stürmen. Heute herrscht wieder Ruhe vor dem Jugendstilgebäude, dessen rosa Anstrich schon von der Fassade blättert.

Ein Gaucho kommt auf seinem Pferd angeritten, mit Cowboy-Hut und Stiefeln wie in einem Wildwest-Streifen - als käme er direkt aus der Prärie. Der Gaucho treibt die Tiere aus ihrer Box und stempelt jedem Tier eine "5" auf, damit der Händler mit der Nummer fünf auch ja kein Tier bekommt, für das er nicht zahlt. Auf dem Betonsteg gegenüber schieben sich 20 Touristen über die Rinderherden. Die Pressesprecherin höchstpersönlich führt hier täglich Besuchergruppen über den Mercado. Das Spektakel aus der Perspektive der Viehhändler kostet 50 Peso pro Person, rund 8,50 Euro. Einige Meter weiter baut sich ein Kamerateam auf: Ein Fernsehsender trägt die aktuellen Preise ins Land hinaus. Der Mercado de Liniers ist mehr als ein Viehmarkt, er ist ein Börsenparkett für Rindfleisch - auf dem sich die Makler auf Betonstegen bewegen, über Rindern, Mist und Urin.

Evita ist tief in der Nacht auf diesem Parkett angekommen, auf der Ladefläche eines Viehtransporters. 400 Lastwagen halten in der Dunkelheit die Nachbarschaft wach und garantieren 2000 Familien einen Arbeitsplatz. Begonnen hatte Evitas Reise fünf Stunden zuvor, in der Pampa, den weiten Feldern, auf denen die Rinder Argentiniens um Buenos Aires grasen, am Rio de la Plata, zwischen den Anden und dem Atlantik, mehr als 750 000 Quadratkilometer weit. Hier wächst nur Gras. Die Pampa ist der Kuhstall des Landes.

Von der Weite der Prärie träumt auch Auktionator Patricio Mac Grath. Er hat sein ganzes Leben auf dem Viehmarkt verbracht. Sein Vater arbeitet für den Markt, allerdings nicht hier, sondern als Buchhalter in einem Büro im Stadtzentrum - dort, wo er die Rinder nicht riechen muss, anders als sein Sohn: "Alles stinkt nach Scheiße. Jetzt riechst du es nicht, weil es den ganzen Tag in der Luft hängt. Aber deine Frau riecht es, wenn du nach Hause kommst. Deine Haare, deine Unterhose, alles riecht nach Kuh."

"Ich bin das schwarze Schaf der Familie", sagt Patricio, denn eines Tages will er eine Rinderfarm besitzen, irgendwo in der Weite der Prärie. Der Junge will in die Pampa? Seine Familie versteht ihn nicht. Buenos Aires und die Pampa, sie könnten ungleicher nicht sein. Der neue Hafen, die Docks, sehen aus, als wären sie direkt aus der Hamburger Speicherstadt kopiert. Buenos Aires ist die europäischste Stadt Südamerikas. Rote Klinkerbauten, Yachten, Weinhandlungen und Restaurants an den Ausläufern des Atlantiks, so als hätte Buenos Aires die HafenCity schon mal fertig gebaut.

Der Mercado liegt zwar in Buenos Aires - doch weder sein Tiergestank verrät das, noch die Gauchos auf ihren Pferden oder die Viehherden, die sie über den Sand treiben. An diesem Ort treffen sich Pampa und Großstadt, Geldwirtschaft und Kuhstall.

Am Abend kehrt Evita zurück nach Hause, in die Pampa, kaum zehn Kilometer entfernt von der Farm, auf der sie aufgewachsen ist. Doch diesmal geht es direkt in den Schlachthof.