Die Insel Réunion im Indischen Ozean gehört zur EU. Hier treffen sich Feuer und Wasser, Ungestüm und Idyll

Manchmal ist die Welt am schönsten, wenn sie aus den Fugen gerät. Wenn sich die Perspektive unvermittelt ändert, alles auf dem Kopf zu stehen scheint und sich plötzlich ein neuer Horizont auftut, ohne Vorwarnung, einfach so. Hubschrauberpiloten lieben das: kurz mal zu zeigen, wie mühelos sie der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen können. Dann fliegen sie zum Beispiel auf der einen Seite eines schroffen Bergrates nur deshalb steil nach oben, um sich unmittelbar darauf ebenso fulminant kopfüber ins Tal stürzen zu lassen.

Tal? Ein Schlund ist das, dieses True de Fer, in das der Helikopter jetzt fällt, ein enger Felskessel mit senkrechten, grünen Dschungelwällen, von denen ebenso senkrecht Wasserfälle in die Tiefe rauschen. Und während man noch herauszufinden versucht, wo oben und wo unten ist, verändert sich draußen die Welt. Die Insel sieht plötzlich anders aus, unwirklich, so, als stamme sie aus einer längst vergangenen Zeit. Als sei sie soeben erst aus dem Meer aufgetaucht, und das restliche Wasser müsse noch von ihr ablaufen. Als brauche sie noch eine Weile, um fertig zu werden.

Es ist typisch für Réunion, dass der bezauberndste Ort der Insel nur sehr schwer zu erreichen ist. Die Wasserfälle des True de Fer kann man auf Postkarten sehen, doppelseitig in Bildbänden und sogar auf dem Cover der Fremdenverkehrsamtsbroschüre - um die 400 Meter hohen Fälle aber in der Inselrealität zu erwischen, braucht man einen Hubschrauber, sonst wird das nichts. Auch andere Schönheiten der Insel offenbaren sich nur Besuchern, die sich während ihres Aufenthaltes ein wenig anstrengen möchten. Das fängt bereits beim Baden an: In der Lagune muss man ein paar Hundert Meter hinauswaten, bevor man den Boden unter den Füßen verliert und mit den Fischen schwimmen kann. Wer am Meer auch nur eine Ahnung von Kühle auf der Haut verspüren möchte, sollte ziemlich früh aufstehen, am besten mit den Mynah-Vögeln, die ab vier Uhr am Morgen im Hotelgarten herumzetern. Und wer mit dem Auto hinauf nach Cilaos will, hat 423 Kurven vor sich. Für die einfache Wegstrecke.

Bevor wir da hinauffahren: ein Überblick. Réunion heißt mit vollem Namen Ile la Réunion, ist ein sogenanntes französisches Überseedépartement und gehört deswegen zur EU, obwohl es im Indischen Ozean liegt - die knapp 10 000 Kilometer weite Anreise von Paris ist der längste Inlandsflug der Welt. Die Insel hat 800 000 Einwohner, ist mit 2500 Quadratkilometern Fläche etwa so groß wie das Saarland und im krassen Gegensatz zur Nachbarinsel Mauritius vom touristischen Ansturm bislang verschont geblieben. Warum das so ist? Mauritius hat die schöneren Strände. Die besseren Flugverbindungen. Die bei Weitem größere Auswahl an Unterkünften. Vielleicht liegt es auch daran, dass auf Réunion niemand Englisch spricht. Möglicherweise ist vielen auch die schroffe Zickzack-Geografie der Insel nicht geheuer. Réunion sieht ungezähmt aus, ungezähmt und ein bisschen wild. Und genau das macht es so reizvoll.

Zwei, drei Kilometer weg von der Küste genügen, und die Insel erinnert an Jurassic Park: dicht bewachsen, dunkelgrün und vor Feuchte dampfend, ein Land der Flanken, Kanten und steilen Schluchten. Wenn man auf der Fahrt nach Cilaos an einem - irgendeinem - Panoramapunkt im Inselinnern anhält, geht der Blick immer zuerst in die Tiefe. Die meisten zucken dann zurück und halten sich kurz am Geländer fest, bevor sie hinausblicken in die Weite, in die Ferne, wo die ordentlich gestaffelten Bergflanken bis ins Blau des Indischen Ozeans hineinzumarschieren scheinen. Für die arglos heranziehenden Wolken werden diese Berge zur Falle, sie bleiben an den Gipfeln und Graten hängen und schweben wie gezupfte Zuckerwatte über dem Grün. Und natürlich kreischen in solchen Momenten wie auf Bestellung irgendwelche Vögel, und natürlich weht einem der Wind gerade jetzt irgendeinen exotischen Blütenduft in die Nase, und natürlich kann man dann nicht anders, als kurz durchzuseufzen. Macht nix. Hört ja niemand. Geht ja im Klicken und Surren der Kameras unter.

319 oder 266 oder 178 enge Kurven später hockt Cilaos in einem Talkessel, als hätte es beschlossen, sich mit Berg und Regenwald anzulegen. Die Natur hat die kleine Siedlung umzingelt, hat weder an den äußeren Straßenzügen Halt gemacht noch am Friedhof der katholischen Kirche mit ihrem mahnend in den Himmel stoßenden Turm, sondern ist von allen Seiten in den Ort eingedrungen. Überall wuchert und wächst es, in den Einfahrten buckeln sich die Steinplatten, beim Schlendern auf den Straßen versperren Blütenkelche den Weg, und die Vorgärten sehen aus wie Gewächshäuser für Orchideen. Die Menschen von Cilaos sind Freizeitgärtner und Hobbybotaniker, es bleibt ihnen auch kaum etwas anderes übrig: Réunion würde ihnen sonst buchstäblich über den Kopf wachsen.

Geologisch gesehen ist Réunion übrigens die Spitze eines gigantischen Vulkans, der irgendwann vor etwa zwei Millionen Jahren sprotzend und speiend durch die Oberfläche des Ozeans brach und anschließend millimeterweise aus dem Wasser gewachsen ist. Diese Vorstellung ist zugegebenermaßen ein wenig beängstigend, deswegen sprechen die Touristiker lieber davon, dass es auf Réunion zwei Vulkane gibt, den erloschenen Piton des Neiges in der Inselmitte und besagten Piton de la Fournaise im Osten, ein Hitzkopf, der seine aufgestaute Energie regelmäßig herauslässt. Richtige Ausbrüche gibt es nur alle paar Jahre, aber selbst an Tagen, an denen sich der Vulkan absolut ruhig verhält, liegt eine eigentümliche Stimmung über den Landschaften am 2077 Meter hohen Piton de la Fournaise.

Auf der Fahrt hinauf hat man Gegenden durchquert, in denen Réunion abwechselnd an das bayerische Alpenvorland, Neuseeland und Hawaii erinnerte - hier oben aber, in den außerweltlichen Stein- und Sandwüsten des Vulkans, sieht es aus wie auf der dunklen Seite des Mondes (oder, für alle Tolkien-Fans: wie in Mordor). Weil die Wissenschaftler ihr Ohr nah dran haben am Vulkanrabauken und sich Eruptionen lange vorher ankündigen, sind Besuche hier oben ungefährlich. Wer will, kann sogar länger bleiben - und den Piton de la Fournaise auf einem verzweigten Wanderwegsystem erkunden. Auf der anderen Seite der Insel, am Strand bei Saint-Gilles-les-Bains, ist das alles eine Welt entfernt. Vor zwei Stunden stand man noch im pfeifenden Wind und wunderte sich nicht wirklich, als das Thermometer im Auto in den einstelligen Bereich fiel - in der Lagune hat das Wasser sagenhafte 26 Grad. Später sitzt man am Strand, einer sauberen Sandsichel, an die niemals etwas angeschwemmt wird, keine leere Flasche, keine Plastiktüte, nichts: Réunion liegt so weit abseits sämtlicher Meeresströmungen, dass selbst die Seefahrer einen Zyklon brauchten, um es zu entdecken, gerade mal 400 Jahre ist das jetzt her.

Bis ins 17. Jahrhundert war die Insel unbewohnt, dann erst kamen französische Siedler, die für ihre Plantagen später Sklaven aus Madagaskar und Ostafrika und Indien dorthin verschleppten. Der Mensch hat Réunion ziemlich lange allein gelassen. Dieses Glück hatten leider nicht alle Inseln.

Und die wenigsten werden größer. Réunion schon. 155 Millionen Kubikmeter Lava sind bei der jüngsten Eruption ins Meer geflossen und dort erkaltet - das ist etwa so viel, als hätte man ein kleines Wohnviertel an die Insel angebaut. Im Osten hat der Lavastrom dabei einen wild-romantischen neuen Küstenabschnitt geschaffen: Bäume und Buschwerk, die zuvor den Weg zum Meer versperrten, gingen in Flammen auf. Und beim Aufeinandertreffen von heißer Lava und kühlem Salzwasser wurde am Ende dann ein Dutzend bislang völlig unbekannte Fischarten aus der Tiefe des Meeres in die höher liegenden Ozeanschichten gewirbelt. Manchmal ist die Welt eben am schönsten, wenn sie aus den Fugen gerät.