Mehrtägige geführte Reittouren durch die bergigen Weiten Islands sind im Kommen - Stars der Veranstaltung: die zähen kleinen Islandpferde.

Die drei jungen Islandpferde sind verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Eben noch liefen sie der Herde hinterher, trittsicher über dunklen Aschesand und Gesteinsbrocken. "Ich gehe sie suchen!", brüllt Tourguide Kristján den anderen Reitern zu. Er weiß, dass Pferde im offenen Gelände, hoch oben in den isländischen Highlands, tagelang laufen können, ohne einem Menschen zu begegnen. Steile Felsen säumen den Wegesrand, der Wind wirbelt Staub auf. Kristján flucht, lenkt sein Reitpferd von der Herde weg und galoppiert zu der Felsformation, hinter der die jungen Pferde verschwunden sind. Wer in den Bergen sein Beförderungsmittel verliert, ist selbst verloren - statt Straßen, Häusern oder Mobilfunkempfang gibt es hier nur weites Land, kristallklare Seen und felsige Abgründe.

Genau deshalb sind die mehrtägigen Reittouren auf der Nordatlantikinsel bei Touristen so beliebt. "Die Buchungszahlen steigen seit Jahren kontinuierlich", sagt Björk Jakobsdóttir, Tourguide bei Ishestar, dem größten Anbieter von Reiterreisen. Laut den aktuellsten Zahlen des Statistikamts macht der Tourismus in Island bereits fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, die Tendenz ist steigend. Die meisten Touristen, die die traditionelle Art des Reisens auf dem Pferderücken ausprobieren wollen, kommen aus Deutschland. "Aber auch Skandinavien, Frankreich und die USA sind wachsende Märkte", sagt Jakobsdóttir.

Kein Wunder, denn die isländische Natur bietet ein unnachahmlich wildes Schauspiel. In den Hauptrollen: Gletscher, Vulkane, Wasserfälle. Der Mensch kommt sich wie ein Statist daneben vor, klein und unbedeutend. Und in kaum einem anderen Land der Welt wird heute noch so geritten wie schon vor Jahrhunderten: Die Reiter wechseln mehrmals am Tag auf ein anderes der frei mitlaufenden Pferde. Im berühmten vierten Gang des Islandpferds, dem bequemen Tölt, können die Touristen mehr als 50 Kilometer pro Tag zurücklegen.

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Sein Pferd ist schweißüberströmt, als Thordur den Paddock inmitten einer Aschewüste erreicht. Den ganzen Tag ist er vor der Herde geritten und hat ihr den Weg gewiesen. Es ärgert ihn, dass sein Mitarbeiter Kristján das Verschwinden der jungen Pferde nicht verhindern konnte - aber Tiere sind nun mal unberechenbar. Thordur führt sein müdes Pferd in den Paddock, nimmt ihm Sattel und Trense ab. Das mit Holzbrettern umzäunte Areal ist eine Art Parkplatz, das die Tourveranstalter für Pausen mit Pferdewechsel gebaut haben. Die frei laufenden Tiere drängen hinterher, werfen sich in den dunklen Sand, wälzen sich, suchen nach Grashalmen. Mit weitem Abstand erscheint die Reisegruppe, vom hohen Tempo erschöpft. Das Temperament mancher Pferde, der scharfe Wind, die langen Stunden im Sattel - wer keine gute Kondition hat, kommt schnell an seine Grenzen. Sowohl physisch als auch psychisch: So mancher steile Abhang, so manche Brückenquerung über reißende Flüsse ist eine nervliche Belastungsprobe. Einige der 14 Reitgäste atmen auf, als Thordur eine längere Pause ankündigt. Er will Kristján mit einem frischen Pferd bei der Suche nach den vermissten Tieren helfen.

Den drei Ausreißern droht der Schlachthof. Ein Pferd, das sich nicht in eine Herde integriert oder den Reiter ernsthaft in Gefahr bringt, hat in Island geringe Überlebenschancen. "Für uns Deutsche ist ein Pferd ein Haustier, für die Isländer eher ein Arbeitsgerät", beschreibt Reitgast Larissa ihre Beobachtungen. Zudem ist Pferdefleisch in Island eine gängige Mahlzeit. Von den 12 000 pro Jahr geborenen Fohlen lande fast die Hälfte im Schlachthof, schätzt Hulda G. Geirsdóttir, Präsidentin des isländischen Pferdeverbands. Das erlaubt den Züchtern, nur die besten Tiere zu behalten - eine Maßnahme, die die Rasse ebenso schützt wie radikale Importgesetze. Demnach ist es ausgeschlossen, ein Pferd von außerhalb auf die Insel zu bringen. Fazit: Alle isländischen Turnierreiter müssen ihre Erfolgsgaranten nach Wettkämpfen in Europa verkaufen. Selbst die Mitnahme von benutzten Ledersätteln oder Stiefeln ist verboten. Auch Touristen müssen Reitkleidung nach strengen Vorgaben desinfizieren. Der Grund: Die Pferde in Island sind nicht geimpft und darum anfällig für importierte Viren und Krankheiten.

Als die Reitgruppe am Abend die Unterkunft in einem grünen Tal erreicht, sind die drei Ausreißer endlich gefunden. Mehrere Isländer hatten sich mit Geländefahrzeugen und Scheinwerfern auf die Suche gemacht. Die 14 Gäste satteln ihre Pferde ab und wanken in die Holzhütte. Ein langer Tisch, an beiden Wänden Hochbetten, dazu gibt es zwei Waschbecken, eins draußen und eins in der winzigen Küchenzeile mit Gasherd. Die Toilette liegt direkt daneben. "Da drüben ist ein Bach, an dem man sich waschen kann", freut sich Reitgast Viola. Die anderen winken ab - ein paar Nächte ohne Dusche sind in den isländischen Highlands normal. Ohnehin steht am nächsten Tag ein Ritt über mehrere Bergkuppen nach Landmannalaugar bevor, einer natürlichen heißen Quelle zum Baden.

Der strenge Geruch in der Holzhütte tut der Stimmung keinen Abbruch. Einer der Isländer packt seine Gitarre aus, verteilt Liederbücher. Tourguide Björk Jakobsdóttir schenkt isländischen Branntwein aus und überredet die Reisegruppe, traditionellen getrockneten Fisch zu probieren. Die beste Kostprobe der isländischen Mentalität erhalten die Touristen um zwei Uhr morgens, als einer der Betreuer mitten im Gemeinschaftsschlafzimmer steht und ruft: "Alle aufstehen! Ihr müsst euch unbedingt den Sternenhimmel ansehen. Schnell aufstehen!" Und tatsächlich: Die Milchstraße am klaren Nachthimmel ist atemberaubend.

Der scharfe Wind hat sich am nächsten Morgen gelegt. Die Touristen packen ihre Schals ein und die Sonnenbrillen aus. Die Route führt über den 100 Meter langen Abhang eines Kiesbergs steil ins Tal hinunter, durch Gebirgsflüsse und Lavafelder. Die Herde spürt, dass es nach fünf Reittagen wieder nach Hause geht. Immer wieder muss Thordur den Pferden direkt hinter sich mit der Gerte drohen, weil sie ihn überholen wollen.

Wenn das passiert, stehen alle Mitreisenden vor einem Problem. Denn die Dynamik einer galoppierenden Herde reißt leicht auch die gerittenen Pferde mit. "Selbst ein Fünfjähriger kann eine Herde führen, wenn alles gut geht", sagt Björk Jakobsdóttir . "Nur wenn etwas schiefläuft, dann muss man schnell handeln." So wie am Nachmittag, als eines der frei laufenden Pferde plötzlich lahmt. Es hat ein Eisen verloren und den nackten Huf an den scharfkantigen Steinen verletzt. Jakobsdóttir lässt die Reiter anhalten, fängt das Pferd ein und lässt ihm an Ort und Stelle ein neues Hufeisen anpassen: Kristján ist nicht nur Tourguide, Pferdekenner und Gärtner, sondern auch Hufschmied. So wie sich Jakobsdóttir neben ihrem Sommerjob für Ishestar einen Bekanntheitsstatus als Sängerin, Autorin und Stand-up-Comedian erarbeitet hat.

Improvisationstalent ist auch am letzten Tag gefragt. Die Gruppe hat nur noch eine letzte Bergkette zu überqueren. Während einer Pause grast die Herde friedlich auf einer Wiese, die Reiter liegen im Gras, die Augen geschlossen. Thordurs Hilferuf geht durch Mark und Bein: "Die Pferde hauen ab!" Unbemerkt hat sich die Herde geschlossen in Bewegung gesetzt, einen Fluss überquert und begonnen, den Berg hochzuklettern. Hektisch rennen die Reiter hinterher, um sie zurückzuscheuchen. Denn wer in den isländischen Highlands sein Pferd verliert, muss selber laufen. Und zwar weit.