Porto ist nur die Nummer zwei im Land. Das stört viele Portuenser, doch sie wissen auch die Freiheit der Nische zu nutzen

Am besten, man beginnt ganz oben. Nimmt sich gleich den Hügel vor, der am steilsten und höchsten aussieht, denn dort bekommt man einen Überblick und versteht vielleicht das steingewordene eschersche Trugbild: Straßen winden sich stetig bergauf durchs Mittelalter, um in Senken zu enden, wo ergraute Banken, Büro- und Ladenzeilen den Neoklassizismus zelebrieren und Barockkirchen übermütig mit ihren Ornamenten spielen.

Taxen biegen rechts ab, legen Kilometer zurück und kommen links an, keine fünf Gehminuten vom Ausgangspunkt entfernt. Bahnen werden von Tunneln verschluckt und auf Viadukten wieder ausgespuckt. Wie Skianfänger tasten sich Spaziergänger Steilhänge hinunter. Aber die Rettung naht: Busse und Trams, die sich kreischend in die Tiefe stürzen und bei jedem Anstieg aufjaulen.

Portos Wege bilden ein Labyrinth, und nein, ganz oben angekommen, erschließt sich die Stadt immer noch nicht. Den Logenplatz besetzt die Kathedrale, eine plumpe Eminenz mit reich vergoldetem Innenleben. Aus Schlitzaugen linst sie zu den Nachbarhügeln hinüber, die mit Ziegeldächern und Türmchen überzogen sind. Vor ihr kauert die Altstadt Ribeira, seit 1996 Unesco-Weltkulturerbe, und tief im Tal schleicht der Douro, der "Goldene", durch seine grüne Schlucht, als hätte er keine rechte Lust, sechs Kilometer weiter westlich im Atlantik zu enden.

Sechs Brücken, gefällte Eiffeltürme und weiße Pfeile und Bögen, zielen von Ribeira am Nordufer über den Fluss auf die Zwillingsstadt Vila Nova de Gaia. Deren Zentrum besteht überwiegend aus den Terrassen eines neuen Luxusresorts und aus Portweinkellern, fensterlosen Giebelhäuschen, die Logos wie Trophäen in den Himmel recken.

Eine Bimmelbahn, die ein Kinderbuch-Illustrator entworfen haben könnte, folgt dem Douro durch Boavista nach Foz, Viertel, in denen sich Porto als Seebad zur Ruhe setzt. Palmen rascheln, Sonnenschirme flattern, Villen dösen hinter dichten Hecken. An der Promenade reihen sich Cafés mit Liegestühlen und Blick auf karibische Strände mit nordatlantischer Brandung. Im Sand graben Kinder nach Schätzen. Zwischen haushohen Felsskulpturen stehen Männer im brodelnden Wasser, werfen unsichtbare Fäden aus und hoffen auf Beute. Surfer, schwarze Pünktchen in der Gischt, kämpfen darum, ihr Gleichgewicht zu halten. Und abends, in den Klubs, wird getanzt, geflirtet, getrunken, um es wieder zu verlieren.

Stadt, Strand, Fluss - ein Spiel, das Porto virtuos beherrscht, auch wenn es für den Landestitel nicht reicht: Die zweitgrößte Stadt Portugals liegt am zweitgrößten Fluss nach dem Tejo, der die Konkurrentin Lissabon durchströmt. Doch wer freut sich schon über eine doppelte Silbermedaille? "Wir Portuenser haben es satt, in Lissabons Schatten zu stehen, zumal wir erfinderischer, fleißiger und besser sind als die Hauptstädter, und zwar nicht nur im Fußball (der FC Porto ist in diesem Jahr unangefochten die Nummer eins). Schließlich heißt es nicht umsonst, dass Porto arbeitet, während Lissabon feiert", sagt José Melo Ferreira. Der kleine Mann, der hinter einem großen kubischen Schreibtisch in einem kubischen Polstersessel versinkt, ist Architekt und einer der wenigen international erfolgreichen Designer des Landes. Die meisten Möbel im Raum sind seine Entwürfe, portuensische Interpretationen der Moderne; viele kosten vierstellige Beträge. Weil er zu wenige verkauft, um davon zu leben, restauriert er zusätzlich Altbauten, richtet Shops ein und Restaurants: "Das boomt. Seit die Krise die Industrie lähmt, setzt Porto auf Dienstleistung und Tourismus."

Eine schwere schwarze Holztür schirmt die Ruhe und Ordnung seines Showrooms ab. Draußen, in Innenhöfen und hinter Schaufensterscheiben, explodieren Farben, rauschen Wasserfälle aus Licht, Granitbrocken verhöhnen die Schwerelosigkeit, mannshohe hölzerne Würfel winden sich in Ketten - hinter fast jeder Tür eine Galerie, ein Concept Store oder Vintage Shop. Das Künstlerviertel Bombarda führt einen manischen Reigen auf: "Schaut her, alle Welt, was Porto sich traut!" Blüten, Ellipsen, Karos, Schleifen tanzen über Azulejo-Fassaden der schmalen, drei- und viergeschossigen Häuser. Die Muster verheddern sich in Balkongittern, die Häkeldeckchen imitieren und sich mit wütenden Graffiti beißen, zum Beispiel mit Männer- und Frauenfiguren im Stil des berühmten britischen Street-Art-Künstlers Banksy.

Aber die Stadt kann in Sachen Kunst und Szene auch Ernst machen: Die Fundação Serralves im Stadtteil Boavista zählt zu den wichtigsten Museen für zeitgenössische Kunst in Europa. Dazu gibt es so viele hochkarätige Galerien, Hotels, Restaurants und Klubs, dass das internationale Stadt- und Szenemagazin "Time Out" Porto eine eigene Ausgabe widmet. Überdies kann es gleich mit zwei Pritzker-Preisträgern aufwarten: mit Álvaro Siza Vieira, der den Architektur-Oscar 1992 erhielt, und seinem Schüler Eduardo Souto de Mouro, Gewinner 2011.

José Melo Ferreira fasst sich mit beiden Händen zwischen die Augen. Er klappt sein Brillengestell auseinander. Die beiden Hälften fallen ihm um den Hals. "Wir lieben das Ungewöhnliche und Innovative. Und damit werden wir es an die Spitze schaffen", sagt er und stimmt ein Loblied auf die ewig unterschätzte Stadt an: auf die Architektur-Fakultät, die zu den angesehenen in Europa gehöre, auf die Hochschule insgesamt, mit mehr als 30 000 Studenten die beste und größte im Land. Sein Refrain: "Lissabon, alle starren nach Lissabon." Am Ende fügt er hinzu: "Aber das ist nicht nur schlecht, so können wir uns mehr erlauben."

Freitagnachts zum Beispiel, im Zentrum Baixa. Vielleicht ist es zwei Uhr früh. Vielleicht hat Maria Teresa, die Verkäuferin im Laden für legale Kräuterdrogen, doch gelogen, als sie behauptete: "It's just the taste." Vielleicht schmeckt der Marihuana-Lutscher nicht nur, wie er heißt, sondern wirkt auch entsprechend. Jedenfalls zieht eine Schar riesiger schwarzer Vögel einen perfekten Kreis hoch über der Kirche Igreja dos Clérigos und ihrem Glockenturm, dem barocken Wahrzeichen Portos, eine gefühlte Ewigkeit lang. Und dann, wie ein Bierbecher, ist der Himmel plötzlich und auf unerklärliche Weise leer.

"The art of survival", sagt eine Frau mit rauer Stimme und schwerem portugiesischem Akzent, die das himmlische Ballett ebenfalls mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund beobachtet hat. Was war das? Seit Fische im Douro immer rarer würden, erklärt sie, verfolgten die Möwen nachts Müllautos und stürzten sich auf geplatzte Tüten. "Selbst die Vögel ändern lieber ihr Leben, als Porto zu verlassen", behauptet sie und verschwindet in einer der Gassen, die sich um die Kirche schlängeln.

Sie verlangen nach Trippelschritten und angelegten Armen, denn Dozenten in Cordhosen, Portugals next Topmodels, männliche wie weibliche, Naturburschen in Wanderstiefeln und Holzfällerhemden, Beachboys, Fußballfans in Trikots drängeln sich um Tresen, die auf dem Trottoir aufgebaut sind. Die biegen sich unter Sangria-Krügen, Bier- und Weingläsern und Ellbogen. Gloria Gaynor und The Clash quellen aus den weit geöffneten Fenstern zweier Bars und fallen einander ins Wort. Michael Jackson mischt sich ein, dann ein satter Hip-Hop-Bass. Eine Gruppe junger Italiener, in eine dichte Cannabiswolke gehüllt, jault auf und bricht in Pogo-Hopsen aus. Ein Auto versucht, sich zwischen ihnen durchzutasten. Es gelingt tatsächlich. Keine Polizei weit und breit, die regeln und Ordnung hüten will.

Durchgestylte Klubs, improvisierte Studententreffs, so viele, dass auf den Tischen Lagepläne ausliegen. Hinter jeder Tür ein Spektakel, Discokugeln versprühen Funken, Wände und Decken wetteifern um das verwegenste Outfit: Über einem Piano schwebt ein Kleinwagen. Ein gut sortiertes Bücherregal lehnt an einer Wand mit Streifentapete und bebt im Rhythmus der Tanzschritte. Spiegel verwirren, Sofas trösten. Schmale Stiegen führen in Obergeschosse, wo blaue, rote, weiße Blitze durch Nebelschwaden zucken, bis die Sonne aufgeht. Keine pedantische Bauvorschrift, keine Sperrstunde, die den Spaß verdirbt.

Der sozialdemokratische Bürgermeister Rui Rio ist wohl ein besonders liberaler Mann, ein Förderer der Subkultur und Kultur überhaupt? "Im Gegenteil", antwortet Pedro Burmester. "Er zerstört sie, weil er nur an Geld denkt." Aus Protest weigert sich der international renommierte Pianist, in seiner Heimatstadt aufzutreten, so lange jener Rio im Amt ist. Doppelt ärgerlich, weil Porto seit 2005 die spektakulärste Musikhalle des Landes besitzt, die auf Burmesters Initiative hin entstanden ist: "Ich wollte etwas dagegen unternehmen, dass Porto die Nummer zwei im Land ist."

Er sitzt in einem Nebenraum der Casa da Música, in der er ein- und ausgeht, auf einem Podest, weißes Hemd, schwarze Jeans, Ohrstecker, und knetet eine Zigarettenschachtel. Hinter ihm goldfarbene niedrige Bänke mit O-Beinen, vollgestellt mit Tiegeln: ein Gamelan, ein Instrument aus Indonesien. In der Ferne seufzen Geigen, Posaunen hüsteln, Schulklassen lärmen. Am Ende des Flurs, in der VIP-Lounge, machen Delfter Fliesen und Azulejos gemeinsam blau.

Pedro Burmester, gut vernetzt, aus alteingesessener Familie, hat Portos Bourgeoisie mobilisiert: Mitglieder von Banker-, Kaufmanns-, Industrie- und Weindynastien haben Geld für das Prestigeprojekt dazugegeben. Und er überzeugte den damaligen sozialistischen Staatspräsidenten António Guterres. "Als ich ihm die Pläne zeigte, sagte er: ,Großartig. Nur schade, dass das nicht für Lissabon ist'", erzählt der Pianist. "Für die Mächtigen zählt die Hauptstadt, der Rest ist Landschaft", sagt er, was jedoch nicht nur schlecht sei: "So haben wir gelernt, hart zu kämpfen."

Der kristalline Eisberg des Niederländer Stararchitekten Rem Koolhaas hat in Boavista ein Straßenbahndepot platt gewalzt und steinerne Wellen aufgeworfen. Skater toben sich darin aus, zu Musik von Lady Gaga. Die Häuserreihen gegenüber schenken ihnen und dem kantigen Neuankömmling kariöse, schiefe Lächeln. Freundlicher ist die Nachbarschaft seit seiner Ankunft geworden, schicke Cafés haben eröffnet. Junkies haben den kreisrunden Park neben der Musikhalle wieder Familien und Hundebesitzern überlassen. "Die Bürger sind stolz auf das Haus und nutzen es intensiv", freut sich Pedro Burmester.

Die weiße Schale verhüllt ein 3-D-Puzzle, das elf Etagen einnimmt. Gläserne Vorhänge und Metallwände säumen Treppen und Flure, die in luftigen Konzertsälen und purpurroten Samtschatullen enden: Seminarräume. Musik wird dort nicht nur konsumiert, sondern auch gelehrt. Kinder und Erwachsene erfahren Klassik, Pop, Jazz, Rock, "alle Stilrichtungen in bester Qualität", sagt der Maestro Pedro Burmester. "Wir wollen keine Elite erreichen, sondern die breite Masse."

Ein paar Kilometer südlich, in Ribeira, kickt ein Junge einen Fußball bergauf, und der Hügel spielt ihn zurück. Die rosafarbenen, gelben, roten Häuschen halten sich tapfer, obwohl sie ins Torkeln geraten sind beim Versuch, dem Lauf der Treppen und Kopfsteinpfade zu folgen. Die sind so eng, dass große Menschen den Kopf einziehen, um sich nicht an den Traufen zu stoßen. Katzen dösen neben Blumenkübeln. Ein Baby weint, die Luft riecht nach Duschgel. Am öffentlichen Hahn füllt eine Frau mit einem Handtuch um den Kopf ihren Eimer mit Wasser. Eine Greisin sitzt lässig wie ein Teenager und unverrückbar auf einer Treppenstufe. Mit dem schwarzen Kleid und schwarzen Wollstrümpfen verspottet die Alte die Nachmittagshitze, und hin und wieder schießt sie aus den Augenwinkeln schwarze Pfeile auf die Eindringlinge ab, die durch ihren Vorgarten stolpern. Ein "bom dia" aber erwidert sie mit einem zahnlosen Strahlen.

"Wir Portuenser geben uns erst einmal unfreundlicher, als wir sind", sagt Inês Magalhães, 32, Modedesignerin. "Dabei haben wir ein großes Herz." Man kann ihr sonnabends nachmittags auf dem Mercado Porto Belo auf der Praça Carlos Alberto begegnen, einem Platz in Baixa, auf dem man beim Versuch landet, ein völlig anderes Ziel zu erreichen. Die nachtblaue Bluse schlingt sich so kompliziert um den Hals, dass Inês ihr Kinn heben muss. Überheblich sieht sie aus. Bis sie einen hässlichen Hund streichelt, die mürrische Besitzerin mit weichen Silben überschüttet und die Frauen miteinander lachen. Inês hat den Trödelmarkt gegründet, als sie nach einem Jahr in London in ihre Heimatstadt zurückkehrte: "London hatte mich angesteckt mit seinem Optimismus und Elan, und ich wollte meinem eher schwermütigen Porto eine Prise davon verabreichen", sagt sie. Einnahmen bringt ihr die Initiative nicht, aber das Lob der Menschen im Viertel. Um Geld zu verdienen, jobbt sie in Läden von Freunden, schneidert Outfits für Bekannte.

"Eine feste Stelle in einem richtigen Beruf haben die wenigsten jungen Leute hier", sagt sie. "Aber alle, die ich kenne, haben Pläne und erfinden sich einfach selbst ihre Zukunft." Sobald sie genug Geld gespart habe, wolle sie eine Weinbar eröffnen, "eine ganz neue Art von Laden in Porto".

Bis dahin lebt sie in einer WG in einer der billigen Wohnungen in den Nebenstraßen des Zentrums, dort, wo es keine Schönheitsoperation verpasst bekam für den großen Auftritt als Kulturhauptstadt Europas 2001. Wo Scheiben erblindet sind und Fassaden unter Ausschlag leiden, wo sich Porto ausprobiert. Und wo es, gut verborgen im Labyrinth und fast unbemerkt von der Welt - eine Weltstadt ist.