Wer auf umständliches Kartenlesen verzichten möchte, lässt sich von studentischen “Lotsen“ über die Ebenen führen und bekommt Land und Historie nahegebracht.

Es gibt Landschaften, die sind wie geschaffen für eine Fahrradtour, und der Norden der Provinz Groningen gehört zweifelsohne dazu. Das Wegenetz ist gut ausgebaut, bergauf geht es bestenfalls beim Überqueren von Warften, Deichen oder der N 46, die Groningen und Eemshaven verbindet.

Entweder man radelt auf eigene Faust, dann benötigt man eine gute Karte. Oder man erkundet die Landschaft in Begleitung eines ortskundigen Führers, zum Beispiel der studentischen "Lotsen". Bei den Lotsen handelt es sich um Deutsche, die in Groningen studieren, darunter Susan Apfel, Isabella Ampomah und Malte Berendt aus Hamburg. Über Monate hinweg haben sie Fakten und Daten zur Stadt und Provinz Groningen gepaukt und sichern sich nun als Gästeführer den so wichtigen Nebenverdienst. Die Krönung ihrer Ausbildung: eine gemeinsame Radtour durch die Provinz Groningen.

Es ist eine Landschaft, die Polder für Polder dem Watt abgerungen wurde. Bei dem Bau der Kanäle und Deiche taten sich im Mittelalter vor allem die Zisterzienser-Mönche aus Aduard hervor, deren Kloster - eines der größten und einflussreichsten in ganz Nordeuropa - vor den Toren von Groningen lag. Doch so imponierend das Werk der Mönche auch sein mag, ungleich spannender finden die Studenten die nahe Bauernkirche von Harkema. Sie kann getrost als gutes Beispiel für die sprichwörtliche Dickschädeligkeit eines Groninger Bauern dienen. Denn Albert Harkema hatte sich in den Kopf gesetzt, eine eigene Kirche in Miniaturformat zu errichten. 13 Jahre werkelte er an seinem privaten Gotteshaus. Das örtliche Bauamt wollte es abreißen lassen, doch als immer mehr Schaulustige zum Hof pilgerten, wurde die Genehmigung nachträglich doch noch erteilt.

Auf der Radtour durchquert man eine der ältesten Kulturlandschaften Europas

Auf unserem weiteren Weg Richtung Norden durchqueren wir eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. Im Zickzackkurs folgt der Radweg dem Lauf der Kanäle durch eine offene Marschenlandschaft. Wer mehr über die Geschichte dieser Landschaft und den 2500 Jahre währenden Kampf gegen das Wasser erfahren möchte, sollte das Regionalmuseum "Wierdenland" in Ezinge besuchen. Wierden sind künstlich angelegte Hügel, die in Friesland "Terpen" und in Deutschland "Warften" oder "Wurten" genannt werden. Auch Garnwerd ist ein solches Wierdendorf. Es hat eine Mühle, eine Zugbrücke und einen traditionsreichen gastronomischen Betrieb: das Café Hammingh unmittelbar am Reitdiep, der alten Wasserstraße zwischen Groningen und der Nordsee. Hier verzehren wir unsere "broodjes", bevor wir durch die "Burgemeester Brouwerssstraat" radeln, die kleinste Straße der Niederlande, durch die gerade eben ein Auto passt.

In Pieterburen lebt Susan auf. Denn Susan mag Seehunde. Und Pieterburen ist in den Niederlanden das Synonym für eine Seehundaufzuchtstation. Hier darf man, was man in der freien Natur tunlichst lassen sollte: junge Seehunde aus der Nähe betrachten. Tausende sind mit Fischbrei und Hering am Stück schon aufgepäppelt worden. Pieterburen ist zugleich Ausgangspunkt für Wattwanderungen, und wer bislang glaubte, Wattenmeer ist gleich Wattenmeer, der war noch nicht in Noordpolderzijl, dem kleinsten Seehafen des Landes. Das Watt vor Noordpolderzijl ist tiefster Schlamm. Susan, Isabella und Malte sind klug genug, nicht dem Beispiel von Mathias zu folgen - der Kommilitone aus Dortmund versackt gleich im ersten Priel. Man braucht also unbedingt einen erfahrenen Wattführer wie Staats Mooibroek, der einem erklärt, wie man wieder herauskommt aus dem grauen Schlick. Oder was man mit einem Salzwiesen-Gewächs wie Strandbeifuß alles machen kann. Das Heilkraut wurde früher gegen müde Füße in Schuhe gestopft, und noch heute wird daraus Absinth hergestellt.

Mittagspause im Café Zielhoes, in dem schon Bob Dylan einen Kaffee bestellte

Nach so einer Wattwanderung steht einem der Sinn nach einer Tasse Kaffee. Bevor man allerdings in das Café Zielhoes gleich neben der alten Schleuse von Noordpolderzijl stürmt, sollte man sich den Schlick von den Schuhen spülen. Sonst kommt man nicht rein in die gute Stube. Nichts erinnert daran, dass hier bereits einer der ganz Großen des Musikgeschäfts seinen Kaffee getrunken hat: Bob Dylan. Nach einem Konzert in Groningen schwang er sich aufs Rad und durchquerte eine Landschaft, die ihn sehr an den Mittleren Westen der USA erinnerte. Im Café Zielhoes bestellte er einen Kaffee und wunderte sich über den Besitzer, der kaum ein Wort von sich gab. Dylan aber genoss es, nicht erkannt zu werden. Als Dylans Begleiter den Wirt auf seinen berühmten Gast aufmerksam machte, soll der nur geraunt haben, das sei ihm egal: "Wenn er nur seinen Kaffee bezahlt."

Spätestens beim Besuch der Menkemaburg in Uithuizen wird klar, dass der nordöstliche Zipfel der Niederlande auch kulturell etwas zu bieten hat. Von ehemals rund 200 Burgen im Groninger Land sind 16 geblieben, und die Menkemaburg gilt als die schönste. Sie zeugt vom Lebensstil und Standesbewusstsein des Landadels im 18. Jahrhundert. 1902 starb der letzte Bewohner, und fast scheint es, als habe man vergessen, das Silberbesteck wegzuräumen.

Nach gut 100 Kilometern erreichen wir die letzte Station unserer Rundreise: Appingedam. Zwar hat das große Groningen dem kleinen Appingedam wirtschaftlich lange schon den Rang abgelaufen, aber die "Damster" können sich mit dem Gedanken trösten, dass man charmanter kaum wohnen kann als hier. Und mit dem Zug sind es nur 34 Minuten bis in die quirlige Studentenstadt ohne Sperrstunde. Diesen Zug nehmen auch Susan, Isabella und die anderen, allerdings nicht ohne vorher einen Blick auf Appingedams größte Touristenattraktion zu werfen: die berühmten hängenden Küchen. Die waren eigentlich eine Verlegenheitslösung. Denn als der Handel einbrach und aus alten Lagerhäusern am Damsterdiep Wohnhäuser wurden, fehlte Platz für eine Küche - so entstanden die hölzernen Vorbauten über dem Wasser.