Eine Glosse von Martin Cyris

Ich befinde mich am schönen Strand von Cervia an der italienischen Adria. Es sind 28 Grad im Schatten, kein Wölkchen trübt den azurblauen Himmel. Das Mittagsmahl war lang und ziemlich opulent. Die frittierten Meeresfrüchte, eine Spezialität der Region, wollen erst einmal verdaut werden. Jetzt bloß nicht in die pralle Sonne legen!

Ein Schattenplätzchen soll es sein, am schicken Lido von Cervia. Auf den Liegen fläzen Sonnenanbeter. Es gibt zwar noch ein paar freie, allerdings fein übereinander gestapelt. Bademeister ist keiner in Sicht, also schnappe ich mir eine vom Stapel und schleppe sie in Richtung der Sonnenschirme. Unter den meisten herrscht volles Haus, sprich, links und rechts befinden sich je zwei Liegen.

Aber da, ganz in meiner Nähe erspähe ich einen Schirmplatz, der nur halb belegt ist - ein junges Pärchen brutzelt in der Sonne, die Haut englisch. Also nicht etwa wie ein saftiges Steak, sondern krebsrot - wie bei englischen Urlaubern oftmals üblich. Links von ihnen: Freiraum für meine Liege, und auch noch im Schatten!

Gerade habe ich das Ding abgestellt und mich draufplumpsen lassen, als das Mädel den Kopf hebt. Behäbig wie eine verpennte Seerobbe. Sie guckt in meine Richtung, mit einem Blick, der töten könnte. Genervt atmet sie durch, stupst ihren Freund an und deutet in meine Richtung. Möglicherweise hatte die Gute vor, demnächst von der höchsten Grillstufe auf Schongaren umzuschalten - also in den Schatten zu wechseln. Sorry, aber das konnte ich ja nicht ahnen.

Weil die Meeresfrüchte wie Wackersteine in meinem Magen liegen und die Kommunikation mit meinem Schirmnachbar ohnehin nur nonverbal stattfindet und daher auf Mutmaßungen basiert, lasse ich den virtuellen Rollladen runter - Siesta-Time. Meine verspiegelte Sonnenbrille wehrt weitere Blicke ab.

Normalerweise hilft man ja gerne - Motto: Ladies in Red first -, aber für die beiden wäre ein Gang zum Dermatologen jetzt definitiv die bessere Entscheidung. Und Schattenparken ist schließlich auch in Italien kein Grundrecht. Wer zu spät kommt, den bestraft die UV-Strahlung.

Das sanfte Wellenrauschen wiegt mich in den Schlaf. Ich nicke ein - und träume Fürchterliches: Ich stehe vor Gericht. Angeklagt des Schattenraubs. Der Beihilfe zum Sonnenbrand. Der unterlassenen Hilfeleistung. Lidoverbannung auf Lebenszeit fordert der Staatsanwalt. Freispruch dagegen mein Anwalt. Schatten sei Allgemeingut. (Einen) Schatten zu haben, sei nicht strafbar.

Als ich wieder aufwache, ist die Sonne fast im Meer versunken. Das Pärchen ist verschwunden, und mit ihnen der Schatten, das Corpus delicti. Ich bin freigesprochen - aus Mangel an Beweisen.