Eine außergewöhnliche Stadtführung durch Bergen führt mit dem “Magister historicus“ zu hängenden Gärten und Güldenem Brinken

Grauer Zylinder, ein Wams aus Samt und Seide, ein Gehstock, wie ihn feine Herren anno dazumal getragen haben: Dieser Stadtführer in Bergen auf Rügen mit dem selbst gewählten Titel Magister historicus stellt etwas dar. Uwe Hinz heißt er, hauptberuflich Kürschnermeister, zudem Leiter eines Pfeifen- und Tabakkabinetts, engagierter Ratsherr im kommunalen Parlament und auch als Vorsitzender des Altstadtvereins so etwas wie das Gewissen der Inselhauptstadt, deren übrige Politiker er unermüdlich auf Trab hält.

Bergen, knapp 15 000 Einwohner, im Wortsinne Mittelpunkt von Rügen, Haupt- und Kreisstadt, ungefähr auf halbem Wege zwischen Stralsund auf dem Festland und dem Fährhafen Sassnitz gelegen. Die meisten Inselurlauber fahren auf der Bundesstraße 96 an dieser Mini-Metropole vorbei oder lassen sie, von den Seebädern und der Kreideküste im Osten aus gesehen, schlichtweg links liegen. Ein Fehler.

Wer sich auch nur ein paar Stunden Zeit nimmt, wird Überraschendes erleben: Hängende Gärten, die zwar nicht viel mit dem Weltwunder der Königin Semiramis aus dem alten Babylon gemeinsam haben, aber immerhin schon 1805 im ersten Reiseführer über Rügen erwähnt wurden; die älteste Kirche der Insel, deren Turmuhr die Stunden in 61 Minuten aufteilt - und die trotzdem ganz genau geht; ein Rathaus mit Elementen aus Jugendstil und Historismus, in dem immerhin bis 1945 fromme Jungfrauen gewohnt haben; einen idyllischen Klosterhof im Herzen der Altstadt, heute beliebtester Festplatz, eingerahmt von einem Museum und den Ateliers einheimischer Kunsthandwerker; kopfsteingepflasterte Gassen und Plätze, Häuser aus der Gründerzeit und Fachwerk-Ensembles, liebevoll bis ins Detail restauriert.

Uwe Hinz, der Mann mit dem Zylinder, stopft sich eine Pfeife mit einer Tabakmischung, zu der Apfelstreusel gehören und Sanddorn, Rügens Allzweckfrucht. Hinz kennt all diese Stadtjuwelen. Zu jeder Fassade fällt ihm ein "Histörchen" ein. Brücken und Bögen schlägt er von einem Jahrhundert zum anderen, von Rügen bis in die weite Welt, zum Beispiel vom seinerzeit berühmten Chirurgen Theodor Billroth, dem wohl größten Sohn der Stadt. Billroth-Haus, Billrothstraße, eine mächtige Billroth-Eiche auf dem "Güldenen Brinken" erinnern an ihn. Auf dem Brinken stand einst das Gildehaus, Treffpunkt der Handwerkszünfte. Seit über 100 Jahren bietet hier der Kaufmannshof gepflegte Gastlichkeit. Im Kontor, dem Restaurant des Traditionshauses, wird Rügener Zwiebelschinken serviert oder eine Pommersche Erbsensuppe mit geräucherter Forelle.

Vom Hotelparkplatz bietet sich der beste Blick auf die Hängenden Gärten, diese Grünanlage, deren Vegetation in Kaskaden über Naturstein und Ziegelmauern fällt. Am Kaufmannshof fallen dem Magister Geschichten zu Hotels ein, die es schon lange nicht mehr gibt. Vom Mecklenburger Hof, in dem heute die Volksbank residiert, erzählt Hinz, vom Hotel Prinz von Preußen, das heute ein Modehaus beherbergt, von Herzögen und Reichskanzlern, die dort einst abgestiegen sind.

Und schon sind wir an der Dammstraße angelangt, der ersten gepflasterten Straße der Stadt. Sie führt vorbei am ebenfalls legendären Café Meyer und in der Verlängerung bis zum Rotensee-Viertel, wo früher die Bergener Hausfrauen und Dienstmädchen ihre Wäsche gewaschen und gebleicht haben. Wir aber bleiben im Zentrum, werfen einen Blick ins Benedix-Haus, den schönsten Fachwerkbau der Inselhauptstadt, fast 400 Jahre alt. Die Touristen-Information hat hier ihren Sitz, auch das Standesamt.

Alle Gassen, die alten und auch die neuen Häuser, werden überragt von der Backsteinkirche St. Marien, deren Ursprünge auf das Jahr 1180 zurückgehen. Damals als romanische Basilika begonnen, wurde sie im 15. Jahrhundert im gotischen Stil vollendet, bis heute eine Schatzkammer: wunderschöne Fresken, fantasievolle Darstellungen von Paradies und Hölle lassen jeden Kunstfreund die Zeit vergessen.

Vor der Kirche, auf dem Klosterhof, feiern die Rüganer ihre Gemeindefeste. Und im Museum nebenan wird Stadtgeschichte gezeigt, Kunsthandwerk in kleinen Schauwerkstätten. Bildhauerin und Schmuckdesignerin Rita Ackermann, Keramikerin Kati Rohde und Karola Kolbe, die Kerzenziehen betreibt, lassen sich über die Schulter gucken.

Der Magister erzählt unermüdlich, von Gadmund, dem bis heute sogenannten Nachtjackenviertel, dessen Bewohner einst in aller Frühe, nur mit Mantel über dem Pyjama bekleidet, ihr Wasser von weither holen mussten. Vom ehemaligen Hafen zwischen dem Großen und dem Kleinen Jasmunder Bodden. Von den goldenen Zeiten nach 1883, als mit der Eröffnung des "Großbahnhofs" Handel und Tourismus aufblühten. Bis 1971 rumpelte noch eine Kleinbahn durchs Städtchen.

Vor den Toren der Stadt: viel Wald, viel Wasser, grüne Hügel. Der höchste, mit 91 Metern, ist der Rugard, gekrönt vom Ernst-Moritz-Arndt-Aussichtsturm. Seine Kuppel hat gerade ein neues Glasdach bekommen. Andrea Köster, seit 20 Jahren Bürgermeisterin von Bergen, ist stolz auf diese Errungenschaft: "Viel hat sich bei uns getan, ein frischer Wind weht durch das liebe, alte Ackerbürgerstädtchen."

Es sind in der Tat die kleinen Attraktionen, die Bergen so sympathisch machen, die Sommerrodelbahn am Stadtrand, der Kletterwald am Rugard, das alte Postamt, das Amtsgericht - beides Gebäude, die in die Kulisse historischer Filme passen würden. Vom wirklich großen Rügenspektakel, den Störtebeker-Festspielen auf der Naturbühne in Ralswiek, trennen die Hauptstadt aber nur fünf Kilometer.

Dort gehen, wie in jedem Sommer, der alte Haudegen und seine Kumpanen auf die Jagd nach dem Gold der Templer. Regie führt auch in diesem Jahr der ehemalige Thalia-Schauspieler Holger Mahlich aus Hamburg. Während auf der Naturbühne am Jasmunder Bodden für ein paar Monate Pulverdampf und Piratenjux die Massen anzieht, ticken in Bergen nach wie vor die Uhren etwas anders. Und nicht einmal der Magister historicus Uwe Hinz, der fast alles über seine Stadt weiß, hat bisher das Geheimnis der 61. Minute auf dem Zifferblatt von St. Marien lüften können.