Im Juli und August verwandelt sich der äußerste Norden Kanadas in eine farbenfrohe Fauna und Flora.

Die Luft flirrt über dem Fluss. Nur ein Kanu durchschneidet an diesem Nachmittag einen Moment lang das Wasser. Fast lautlos zieht es in 40 Meter Entfernung vorbei und gleitet nordwärts Richtung Eismeer, während ein paar Wildgänse aufflattern und Kurs nach Westen setzen. Ein paar Hundert Meter weiter springen Kinder über dicke Kieselsteine am Ufer und gehen baden - allerdings nur bis zur Hüfte, denn das Wasser ist keine zehn Grad warm. Sie spritzen einander nass, kreischen und lachen. Wieder ein Stück weiter sind es nur noch die Bienen, die man hört, wenn sie in Geschwaderstärke in den Blüten Tausender kaum zeigefingerhoher Veilchen turnen: Sommer in der Arktis, Juli und August im Mündungsdelta des Mackenzie River hoch oben in den kanadischen Northwest Territories.

Für die 3500 Einwohner der Delta-Stadt Inuvik sind Tage wie diese der Inbegriff des Sommerglücks. Aller Schnee, alles Eis, all die vielen endlos langen Winterabende sind vergessen. Die Weite der Barrenlands, jener Tundra hier oben nahe der Kuppe des Planeten, ist im kurzen Sommer in ein violettes, gelbes und cremefarbenes arktisches Blütenmeer verwandelt. Nicht nur die Natur explodiert dann innerhalb kürzester Zeit - auch die Menschen sind ganz aus dem Häuschen, wenn das Thermometer plötzlich die 25-Grad-plus-Marke überschreitet. Sie stürzen sich ins Wasser, stellen in den Siedlungen des Nordens Möbel vor die Haustür, verlegen ihr Leben ins Freie, fahren zum Grillen und Picknicken an den Fluss, der gut 90 Kilometer weiter nördlich in den Arktischen Ozean mündet. Sie genießen, dass die Sonne erst nach Mitternacht - und dann auch nur für Momente - untergehen wird. Sie genießen, dass sie ausnahmsweise bis spätnachts draußen sein und den inneren Akku endlich mit Licht aufladen können. Ihre karge, lebensfeindliche Heimat im Norden Kanadas blüht für zehn Wochen auf, ehe Ende September wieder der erste Schnee fallen und das Land hier oben im Delta ins übliche Einheitsweiß tauchen wird.

Trotz der Sommergefühle sind sie immer auf der Hut: "Das Wetter kann bei uns blitzschnell umschlagen", sagt Roger Kuptana, der hier oben geboren, aufgewachsen und alt geworden ist - und schmunzelt doch über die Kinder, die gerade unten am Kieselsteinstrand in Badesachen herumtollen, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. "Manchmal, vor allem vormittags, zieht plötzlich dichter Nebel auf, der alles lahm legt", sagt Roger, "das Klima hier wandelt sich rasant, und besonders die Ältesten von uns sind darüber irritiert. Sie sind in Iglus und Zelten aufgewachsen, hörten auf Mutter Erde. Nun verstehen sie die Natur nicht mehr. Sie können sie nicht mehr lesen. Es ist, als ob sie über Nacht zu Analphabeten geworden sind. Als ob man morgens aufgewacht wäre und nicht mehr wissen würde, wie Schreiben geht."

Doch all diese Sorgen sind weit weg, wenn endlich Sommer ist. Roger lässt einen Büschel arktisches Wollgras fast liebevoll zwischen den Fingern hindurchgleiten. Das Pflänzchen sieht aus wie Baumwolle - und bringt es auf nicht mehr als 15 Zentimeter Höhe. "Fahrt nur über Geröll, fahrt im Flussbett. Und überrollt so wenig Moose wie möglich und noch weniger Blumen. Sie sind unser ganzer Stolz, die ganze Pracht", gibt Roger Urlaubern mit auf den Weg, die mit ihm auf Quads, so etwas wie eine vierrädrige Kreuzung aus Mini-Traktor und Motorrad, in der Natur der Arktis unterwegs sind und Ausschau halten: nach Bären, nach Karibus, nach den seltenen weißen arktischen Wölfen. Die Northwest Territories erstrecken sich von fast der Hudson Bay im Osten bis zur Grenze Alaskas im Westen und umfassen 1 140 835 Quadratkilometer. Das ist ungefähr die 3,2-fache Fläche Deutschlands.

Bewohnt sind die an Bodenschätzen reichen Territories von nur rund 41 500 Menschen. Wirtschaftlich lebt die riesige Region von Öl- und Gas-Exploration bzw. -Förderung, von Diamantenminen und dem Uran-Bergbau. Und von den Urlaubern, die es vor allem im kurzen Sommer hier herauf zieht.

Blake Lawson ist dann drei-, viermal am Tag mit seiner alten Twinotter-Propellermaschine unterwegs. Sein Team hat spezielle Tundra-Bereifung aufgezogen, um auch dort landen zu können, wo es keine Pisten gibt. Er geht dann am Eismeerstrand, bei Niedrigwasser im flachen Bett eines Flusses oder schlicht auf den Moosen einer Ebene im Nirgendwo herunter, um seine Passagiere abzusetzen: Leute, die eine Woche, manchmal einen Monat lang die Weite fast für sich alleine haben wollen. Noch kurz "bye, bye" sagen, dann ziehen sie mit Rucksack und Zelt oder mit Faltboot durch die Wildnis. Ihre Verpflegung haben sie mit dabei oder werden sie mit der Angel aus einem der kristallklaren Flüsse ziehen. Ob das auch eine Ferien-Idee für ihn selber wäre? "Klar", sagt Blake. "Wenn ich bloß Zeit dafür hätte! So arbeite ich im Sommer, der absoluten Hochsaison für uns Buschpiloten, fast ununterbrochen und verbringe die Wintermonate in der Karibik oder auf den Malediven."

Und während er noch antwortet, lässt er die Maschine bereits wieder zum Start rollen, schwenkt kurz vor einer Felswand wieder auf die gedachte Moospiste ein, um seine Twinotter nun mit Anlauf zurück in die Luft zu bringen und leer den Flughafen von Inuvik anzusteuern. In zwei Wochen wird er diese Zivilisationsflüchtlinge an exakt derselben Stelle wieder abholen. Bis dahin werden sie auf sich alleine gestellt sein. Ob er sich bei all seiner Fliegerei hier oben an einen gefährlichen Zwischenfall erinnern kann? Er lacht: "Gerade an keinen bestimmten. Dafür sind es zu viele. Aber Angst hatte ich im Cockpit noch nie. Zweimal war ich, sagen wir mal, ernsthaft besorgt."

Es ist ein bestimmter Menschenschlag, der hier im Norden des Landes lebt und arbeitet: herzlich und zugleich hart im nehmen, ein bisschen knorrig, nicht so offen wie anderswo in Kanada, aber sehr hilfsbereit, wenn es darauf ankommt. Es sind Leute, deren Leben noch etwas von den Pioniertagen hat, als Menschen mit allem Hab und Gut auf einem Planwagen loszogen, ohne zu wissen, was sie hinter der nächsten Hügelkette erwartet.

Heute sind es Urlauber, die ein bisschen davon nachempfinden möchten, wenn sie im Juli und August über den 900 Kilometer langen und nur teilweise asphaltierten Dempster Highway mit ihren Miet-Wohnmobilen von Dawson City im Yukon Territory aus nach Inuvik rollen, dabei zweimal mit Fähren den gewundenen Lauf des Mackenzie River kreuzen müssen. Sie rollen durch die wilden Richardson Mountains, vorbei an wenigen winzigen Dörfern, durch Wiesen aus Heidekraut, Tälern aus nichts als hellgrünen Moosen. Es ist die einzige Straße nach Inuvik, und wagen können sie das Abenteuer nur zwischen Juni und Anfang Oktober. Der Mackenzie muss eisfrei sein, damit die Fähren übersetzen können. In den Übergangsjahreszeiten bleibt er gesperrt - bis das Eis über dem Fluss befahrbar ist. Bis all die Blümchen am Ufer und die Sommertage mit dem Badewetter nur noch Erinnerung sind.