Die estnische Insel Saaremaa bietet reichhaltige Flora und Fauna. Ihre Strände sind auch in den Sommermonaten fast menschenleer

Wer es schafft, gegen vier Uhr morgens auf der Tönise-Farm aus dem Bett zu steigen, glaubt draußen zwischen den Obstbäumen seinen Ohren nicht zu trauen: Amsel, Bachstelze und Nachtigall legen sich mit ihrem Gesang derart ins Zeug, dass man vor lauter Entzücken gar nicht bemerkt, wie schnell leichtes Schuhwerk im Tau des Rasens aufweichen kann. Unser Quartier, ein zu einer Ferienanlage umgebauter großer Pferdestall aus dem 18. Jahrhundert mit Schlafkammern in den Remisen, liegt inmitten einer lieblichen Landschaft, wo außer Eichen, Birken, Kiefern und Fichten vor allem Wacholder das gartenähnliche Bild bestimmt. Aus seinen Beeren wird häufig Gin gemacht, doch hier auf den Inseln vor der Westküste Estlands produziert man schon lange keine alkoholischen Getränke mehr, auch nicht "Saaremaa Viin", den traditionellen Wodka, der mittlerweile in Pärnu auf dem Festland hergestellt wird oder im nahen Finnland.

Um die insgesamt 600 Inseln und Inselchen zu erreichen, von denen Saaremaa, Hiiumaa und Muhu die größten sind, fährt man am besten mit Bus oder Auto von der Hauptstadt Tallinn zweieinhalb Stunden in Richtung Südwesten, gelangt in Virtsu an die Ostseeküste, wo eine Fähre nach Muhu verkehrt (dort befindet sich die erwähnte Farm) und verlässt das Eiland über einen Damm nach Saaremaa. Diese Insel ist dreimal so groß wie Rügen, hat 35 000 Bewohner und gilt bei der Bevölkerung von Estland als beliebteste Ferienregion. Aber es kommen auch viele Besucher aus Finnland und Schweden, während sich das deutsche Interesse zurzeit noch in Grenzen hält: Fünf Prozent der jährlich 500 000 Gäste reisen aus Deutschland an, überwiegend Camping- und Wohnmobilfreunde.

Die wissen, dass auf Saaremaa wunderschöne Natur wartet, mit einer mehr als 1000 Kilometer langen Küstenlinie, herrlich weißen und selbst in den Sommermonaten kaum bevölkerten Stränden und einem angenehmen, milden Meeresklima.

Nicht selten lassen sich Schwäne oder Kormorane in unmittelbarer Nähe zum Ufer blicken, im Frühling und Herbst werden abertausend Ringel- und Weißwangengänse gesichtet, Kranichscharen ziehen ihre Bahn, im Norden der Insel ragen Kliffs 22 Meter hoch, und das klare Wasser der Ostsee erlaubt bis zu fünfzehn Meter ungetrübte Tiefsicht. Panga heißt der höchste Kliffabschnitt, und Panga-Resort nennt sich eine nah gelegene Tauchstation mit einfachen Unterkünften für 50 Personen. Hier lohnen sich Tauchgänge besonders, weil viele Schiffswracks auf dem Meeresgrund liegen. Übrigens: Angler werden Saaremaa und die anderen Inseln so schnell nicht vergessen, denn außer Hecht und Aal beißen vor allem Plattfische an. Ihr Vorkommen ist jedes Jahr so groß, dass ein Teil des kommerziellen Fanges vernichtet werden muss.

Schon vor 100 Jahren beschlossen Naturfreunde aus Saaremaa und der lettischen Hauptstadt Riga die Gründung eines Reservates zum Schutz der zahlreichen Vogelkolonien, deren Nester regelmäßig von den Insulanern geplündert wurden. Heutzutage garantieren der Vilsandi-Nationalpark - gelegen auf einer kleineren Insel im Westteil - und weitere Schutzgebiete den zahlreichen Vogelarten wie den Kegelrobben und Seehunden und auch dem Meer, dass von der Spezies Mensch keine Gefahr ausgeht, selbst wenn Fremde die sensiblen Zonen auf markierten Wanderwegen mit einem Führer erkunden dürfen.

Die Flora auf Saaremaa ist beeindruckend: Rund 700 Pflanzenarten gibt es, darunter mehr als 30 verschiedene Orchideen und den in sumpfigen Moorgebieten vorkommenden, seltenen Saaremaa-Klappertopf, lat. Rhinanthus osiliensis. Beim Insel-Sightseeing auf gut ausgebauten Straßen oder mit dem Fahrrad auf Radwegen, die zurzeit auf der etwa 80 mal 80 Kilometer großen Insel nur 30 Kilometer lang sind, begegnet man kaum Fahrzeugen und nur selten einer Menschenseele. Eine Herde Wildschweine scheint wahrscheinlicher, und manchmal harrt hinter dichtem Blattwerk ein Elch. Bis zum Abzug der sowjetischen Besatzungsmacht aus Estland in den 1990er-Jahren blieb die Natur sozusagen konserviert: Das Betreten der Inseln war so gut wie unmöglich, weil sie als strategisch wichtiger Brückenkopf gen Westen gleichzeitig militärisches Sperrgebiet waren; Einheimische konnten sich nur mit Passierscheinen auf ihrer Heimatscholle bewegen. Aus dieser für alle Esten unrühmlichen Zeit, die mit der Unabhängigkeit ihres Landes 1991 zu Ende ging - der EU-Beitritt erfolgte 2004 -, bleibt den Insulanern zumindest eine angenehme Erinnerung: die zahlreichen Kioskstände, auf Russisch "putkad". Dort bekamen sie gemeinsam mit den Soldaten der Roten Armee für ein paar Kopeken eine kräftige Fleischsuppe namens Seljanka und ein Gläschen Wodka. In der Inselhauptstadt Kuressaare hinterließen die Sowjets einen faden Beigeschmack, denn über viele Jahre war sie dazu verdammt, sich "Kingissepp" zu nennen - nach einem ortsansässigen kommunistischen Revolutionär.

Inzwischen hat die 15 000-Einwohner-Stadt Kuressaare ihren alten Namen wieder und beeindruckt Besucher, weil es in der ganzen Stadt keine einzige Verkehrsampel gibt. Im beschaulichen Zentrum, dessen Häuserarchitektur an die schwedische Zeit im 17. Jahrhundert vor der Eroberung durch das russische Zarenreich erinnert, treffen wir in der örtlichen Tourismus-Information Merit-Rin Arro, die uns mit strahlenden Augen engagiert von Events auf ihrer Insel erzählt. So würde im August ein Opern- und Kammermusik-Festival stattfinden, und zwar in der mittelalterlichen Arensburg, einer Hinterlassenschaft des Deutschen Ordens, der Saaremaa mehr als drei Jahrhunderte beherrschte. Als wir die alte Bischofsburg betreten, entdecken wir im mehrstöckigen Turm die Ausstellung "Saaremaa während der Sowjetzeit 1950-1994", hier werden unter anderem Orden, Medaillen und Bilder von Offizieren sowie Dokumente des Ministerrates der estnischen Sowjetrepublik gezeigt.

Außerdem findet im Herbst die Saaremaa-Rallye statt, zu der Fahrer aus aller Welt erwartet werden. Und Merit informiert uns auch über die traditionelle Heilbäderkultur in diesem Teil von Estland. Schon seit 1840 kennen die Insulaner die heilende Wirkung von Meeresschlamm, der aus einer Bucht bei Kurassaare gewonnen wird und zunächst reichen Adelsfamilien aus St. Petersburg, Moskau und Riga zugute kam, bis auch die Esten den Mineralschlamm als Mittel gegen Entzündungen für sich nutzten. Das Interesse an therapeutischen Behandlungen hätte aber aufgrund der Wellness-Welle spürbar abgenommen. Die Leute wollten sich lieber bei Ganzkörper-Massagen und Schönheitsanwendungen wohlfühlen, in die Sauna gehen und im Jacuzzi relaxen. Kein Wunder, dass es auf Saaremaa fast ausschließlich Hotels mit Spas für Wellness-Urlaub gibt. Für sportlich Aktive, die gern an der frischen Luft sind, ließ man mit Unterstützung der EU für fünf Millionen Euro einen 18-Loch-Golfplatz anlegen.

Auf der Fahrt zurück zur kleineren Nachbarinsel Muhu passieren wir den Angla Tuulikumägi - eine Erhebung mit fünf gut erhaltenen Windmühlen. Bis zum Ersten Weltkrieg war auf jedem Bauernhof eine Mühle zum Mahlen von Getreide in Betrieb, insgesamt 800 an der Zahl. Damals wie heute sind die Windmühlen Wahrzeichen von Saaremaa, sie zieren unter anderem Wodkaflaschen-Etiketts und Käsepackungen. Doch nur an wenigen Stellen wie in Angla kann man noch intakte Windmühlen bewundern, denn heute gibt es kaum noch welche. Der Grund: Als auf den Inseln elektrischer Strom eingeführt wurde, brauchte man sie nicht mehr. Dass sich danach niemand mehr um ihren Erhalt kümmerte und sie dem Verfall preisgegeben wurden, lässt auf ein fehlendes historisches Verständnis bei den Insulanern schließen, erklärt uns ein lokaler Hotelbesitzer, der aus Tallinn stammt.

Fest steht, dass die Menschen in dieser Gegend Estlands gewöhnlich langsam reagieren, aber grundehrlich sind. Ihr wertvollstes Aushängeschild jedoch ist ihre wunderschöne Inselnatur, in der man sich geborgen fühlt, glücklich und frei, umgeben von Seewind, Salzwasser und unzähligen Wacholderbäumen, von scheuen Tieren, aber leider mitunter auch von agressiven Mücken. Wenn Saaremaa am Ostsee-Horizont erscheint, gerät unser hektischer Alltag sehr schnell in Vergessenheit.