Einen Tag und eine Nacht laufen, ohne zu schlafen. Eine Grenzerfahrung im Frankenwald

Es ist acht Uhr. Ich stehe auf einem Parkplatz in Bad Steben und laufe los. In den nächsten 24 Stunden werde ich nichts anderes tun, als den linken Fuß vor den rechten zu setzen und den rechten vor den linken. Nicht, weil ich muss, sondern weil ich an meine eigenen Grenzen gehen will. Ich weiß jetzt schon, dass es verdammt hart sein wird.

Bayern Tourismus veranstaltet seit vier Jahren jeden Sommer zur Zeit der Sommersonnenwende ein 24-Stunden-Wandern. Am 4.4. nachts um 4.44 Uhr konnten 444 Tickets für 69 Euro erworben werden. Der Zulauf ist groß, sechs Minuten später waren alle Startplätze weg. "24 Stunden von Bayern" heißt nicht nur: 24 Stunden nur laufen. Es ist mehr. Eine Stollenführung zum Beispiel, Konzerte, Schlemmermeilen, Massagen, Erlebnisstationen, Lichtinstallationen. Es gibt kein Leistungsdenken, keinen Ersten, Zweiten, Dritten. Wer irgendwann nicht mehr kann, hört auf. Steigt in den Bus und geht schlafen.

"Ach, war das leicht!" "Du schaffst das", feuert mich ein Schild am Wanderparkplatz an. Wir trotten los. Tour eins führt über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze von Franken nach Thüringen am Grünen Band entlang. Wir passieren den ehemaligen Grenzstreifen und bekommen ein Transitvisum ausgestellt. Laufen ein Stück auf dem Rennsteig, dem bekannten Fernwanderweg. Nach 16 Kilometern sind wir zurück am Wanderparkplatz. Ach, war das leicht! Das Wetter hält. Sogar die Sonne zeigt sich kurz. Zum Mittagessen gibt es Schweinsbraten mit Knödel. Danach komme ich kaum den Berg hoch. Hätte ich besser Gemüseauflauf genommen.

Die Strecke führt in die Hölle, genauer gesagt ins Höllental. Das Tal heißt so, weil ein Nachbarort von Bad Steben Hölle heißt. "Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle? Hölle! Hölle! Hölle!" Ich muss an Wolfgang Petry denken. Würde gern schneller als vier Kilometer die Stunde laufen. Aber halt: Das Höllental, wildromantisch mit urwaldartigem Baumbestand, ist viel zu schön, um durchzuhetzen. Und 24 Stunden bleiben 24 Stunden.

Schneller laufen bringt nichts. Es geht bergauf. Es geht bergab. Durch Wälder, über Stock und Stein, Wiesen und Felder. Am Bach entlang, durch Dörfer und dazwischen Fotostopps. Die Stimmung ist gut: Es wird viel gelacht und geredet.

Nach einem herzhaften Essen und einer kräftigen Wadenmassage am Wanderparkplatz brechen alle zur Nachttour auf: Sie führt rund um und auf den Döbraberg, den höchsten Berg im Frankenwald. Streckenlänge: 37 Kilometer. Verdammt: Mir tun die Füße weh, die Waden zwicken. Ich rechne nach und merke: Ich laufe jetzt schon seit über 13 Stunden und es ist erst Halbzeitpause.

Die örtliche Blaskapelle spielt "Abend wird es wieder" aus dem evangelischen Kirchengesangbuch. Die heiße Suppe, die ich aus dem Pappbecher löffle, wärmt von innen. Vom Aussichtspavillon auf dem Langen Bühl bei Geroldsgrün blicke ich auf den Frankenwald und weit ins Thüringische hinein. Eine Stimmung wie bei einem Open-Air-Konzert, einer Wallfahrt: fröhlich, besinnlich, entspannt. Der glutrote Feuerball verschwindet am Horizont. Wie schön es hier ist. Die Nacht bricht herein über den Frankenwald - und mit ihr kommen die ersten Zweifel. Irgendjemand fragt ins Dunkle hinein: Ist es noch weit? Immer wieder stiere ich auf das Display meines Handys. Gegen 1.45 Uhr mache ich mir Gedanken darüber, ob ich das Ganze durchstehe.

Was, verdammt noch mal, mache ich hier? Statt Freunde zu treffen, setze ich nun schon seit über 17 Stunden immer wieder einen Fuß vor den anderen. Gegen zwei Uhr nachts kommt eine SMS von meinem Freund. "Ich gehe jetzt schlafen. Hoffe, dir geht es gut! Hier ist gerade Weltuntergang, so sehr schüttet es." Gott sei Dank ist es in Franken trocken. Keine drei Tropfen fielen bisher vom Himmel, dabei war Dauerregen angesagt. Ich trotte stirnlampenbeschirmt mit bleischweren Augenlidern durch die Nacht. Irgendwann ist der tote Punkt überwunden, das Tief durchschritten.

Wenn sich der Weg zieht, beginnt man unweigerlich, über jeden Schritt nachzudenken. Daher hilft es, sich abzulenken - zum Beispiel mit Mitwanderern zu reden, über Gott und die Welt. Und schon bin ich wieder drei Kilometer weiter. Die Notrufnummer ist in meinem Brustbeutel, zusammen mit den Essensmarken. Bei jeder Verpflegungsstation ziehe ich die Nummer heraus. Nein, Abbrechen gibt es nicht, denke ich dann. Gegen 5 Uhr dämmert es. Ich habe Schmerzen an Körperteilen, die ich vorher noch nie spürte. Meinen Knien geht es richtig schlecht, natürlich habe ich meine Teleskopstöcke zum Abstützen vergessen. Dafür einen Wanderrucksack mit viel zu viel Wechselkleidung. Und die schweren Wanderstiefel, die sich nach so vielem Laufen vom Gewicht her doch irgendwie bemerkbar machen.

Ich stolpere mehr, als ich gehe. Eiere durch die Gegend. Teilnehmer überholen mich. "Geht es noch?", fragt einer. Ich merke, wie ich fast auf der Stelle laufe. Der letzte Anstieg hat mich völlig geschafft. Wer bitteschön kommt denn auf die Idee, 800 Höhenmeter bei einer 37 Kilometer langen Nachtstrecke einzubauen? Gereiztheit ist wohl ein Zeichen von Müdigkeit. Zudem lenkt einen bei der Nachtrunde leider wenig ab: keine Fotostopps, keine Aussicht, kein Grün für das Auge. Der Wind fährt hörbar durch die Bäume und Felder. Doch es ist dunkel und kalt. Kind, warum tust du dir das an, höre ich meine Mutter am Telefon fragen. Rund 70 Kilometer an einem Tag! Echt, so etwas machst du?

Einen Tag lang durch den Frankenwald zu stapfen ist kein Wellnessurlaub. Es ist Selbstkasteiung. Ein Wahnsinn. Das wird mir zwischen drei und vier Uhr in der Nacht klar. Fünf Uhr. Die Welt wacht auf. Vögel zwitschern, die ersten Sonnenstrahlen wärmen die steifen Gliedmaßen. Ich schalte meine Stirnlampe aus, spüre meinen eigenen Körper wie nie zuvor. Er rebelliert. Es fängt an zu nieseln. Egal. Regenkapuze auf - und weiter. Immer weiter. Gehen. Nicht nachdenken! Einfach gehen! Kurz nach sieben Uhr bin ich am Ziel. Die letzten zwei Stunden vergingen wie in Trance. Seit 24 Stunden bin ich wach und 23 Stunden davon gelaufen. Meine Knie sind weich, die Pupillen erweitert, als wäre der Körper auf Droge. Meine Füße haben mich 70 Kilometer weit getragen. Ich bin absolut am Ende. Schaffe es gerade noch ins Bett - aber mit einem breiten Lächeln.

Es war das extremste sportliche Erlebnis meines bisherigen Lebens. Auf die Frage "Warum tun sich Menschen so etwas freiwillig an?" gibt es keine Antwort. Man muss es selbst ausprobieren. Es ist eine Art "Walker's High". Ein Rausch. Ein Arzt würde nüchtern sagen: Ein seltsamer Gemütszustand, bedingt durch Schlafentzug, literweise isotonische Getränke und zu viel Frischluftzufuhr. Ich sage: Es ist dies unbeschwerte, satte Glücksgefühl, das sich irgendwann in der Nacht einstellt. Ja, ich würde es wieder tun - und ich werde es wieder tun. Und wieder: 2012 in Oberbayern, 2013 im Allgäu.