Kiew, Hauptstadt der Ukraine, glänzt mit vielfältiger Architektur, Geschichte und schönen Kirchen. Auch Autos werden hier getauft

Es ist wie im Märchen. Bevor der Wanderer die mit Gold gefüllte Schatzkammer betreten kann, muss er eine Reihe von Prüfungen bestehen. Die Passkontrolle auf dem Flughafen von Kiew verläuft fast noch nach den Ritualen real sozialistischer Zeiten. Die Einreiseformulare werden von streng blickenden Beamten akribisch geprüft. Auch die Gesichtskontrollen haben etwas Bedrohliches. Hat man diese überstanden, folgt eine Fahrt über holperige Straßen und Wege, durch baumlose Vorstädte mit tristen Plattenbauten. Einzige Farbflecken sind riesige, knallig bunte Reklametafeln, die in kyrillischer Schrift für Haushaltsgeräte und Haarpflegemittel werben.

Doch die Mühe wird belohnt. Nach gefühlten mehreren hundert Kilometern zerreißt der Vorhang, und vor uns liegt eine zauberhafte Metropole - eine Symphonie in Gold und Grün. Wie Smaragde leuchten die Dächer von Kirchen und Gebäuden, überstrahlt vom goldenen Glanz der Kuppeln. Das wie Rom auf sieben Hügeln erbaute Kiew ist eine Stadt voller Parks. Die ausladenden Kronen alter Kastanienbäume beschatten Straßen und Plätze. Mit dem Stadtplan in der Hand beginnen wir unseren Rundgang am Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan. Hier begann im Winter 2004 die "Orangene Revolution". Hunderttausende Ukrainer protestierten seinerzeit friedlich gegen den Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl.

Auf dem riesigen Platz wimmelt es von Menschen. Sie sitzen fröhlich plaudernd auf dem Rand des Brunnens, genießen ein Bier und einen Mlynzi (mit Schinken gefüllter Pfannkuchen). Ganz nebenbei bewundern sie die akrobatischen Künste der jungen Leute, die auf ihren Inlineskates das Monument der Unabhängigkeit umrunden, eine Art ukrainischer "Goldelse", die aus 63 Meter Höhe auf das Treiben zu ihren Füßen herabblickt.

Die Stadt ist voll mit Skulpturen und Statuen, und jede von ihnen hat eine Geschichte, die mit Begeisterung zum Besten gegeben wird. Da ist zum Beispiel der in Bronze gegossene Heiratsantrag eines zwar mittellosen, aber schönen Mannes, der um eine reiche, wenig attraktive Bürgerin der Stadt anhält. Auch die schneeweiße Figur der Heiligen Olga wird von der Bevölkerung in hohen Ehren gehalten. Wenig beliebt hingegen ist das Monument Rodina Mat (Mutter Heimat), das eine martialische, in Eisen gegossene Frau mit Schwert und Schild darstellt. "Breschnews Tochter", spotten die Kiewer, weil der einstige sowjetische Staats- und Parteichef das Denkmal in Auftrag gab. Die Russen schätzt man hier nicht. Die Menschen bestehen darauf, dass sie nicht Russisch, sondern Ukrainisch sprechen und schreiben.

Kiew, das Juwel des Ostens, prunkt mit seinen schönen Kirchen. Wer die Stufen zur Andreaskirche erklommen hat, ist geblendet von der grün-goldenen Pracht ihrer Zwiebeltürme. Auch die Sophienkathedrale, deren Ursprünge auf das 11. Jahrhundert zurückgehen, sowie die mit Blattgold verbrämte Michajlow-Kirche schlagen jeden Besucher in ihren Bann. Besonders sehenswert ist das am Westufer des Dnjepr gelegene Höhlenkloster Lawra. Unter der Erde befinden sich winzige Mönchszellen und viele kleine Kirchen.

Nach einem Rundgang durch Kiews Unterwelt wenden wir uns den irdischen Freuden zu. Auf dem Kopfsteinpflaster der steil ansteigenden Straßen in Podil, dem ältesten Viertel, findet heute ein Flohmarkt statt. Bilder, die röhrende Hirsche, schneebedeckte Bergspitzen und romantische Seenlandschaften darstellen, konkurrieren mit Andenkenkitsch, Kaninchenfellen, Sowjetuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und hübscher Töpferware. Auf die Frage, wie viel eine Pelzkappe kostet, holt die Marktfrau ihren Taschenrechner hervor und tippt den Betrag in der Landeswährung Griwna ein. Zehn Griwna entsprechen ungefähr einem Euro. Die Verständigung vor Ort mit den Einheimischen erweist sich oft als äußerst schwierig, weil nur wenige Menschen Kenntnisse in fremden Sprachen besitzen. Hinzu kommt, dass sämtliche Straßennamen ausschließlich in Kyrillisch ausgewiesen sind. Selbst an den markantesten Stellen, beispielsweise dem "Goldenen Tor" aus dem 11. Jahrhundert, in dem sich ein Museum befindet, fehlen Hinweise auf Englisch. Unsere Mittagspause in einem lauschigen Straßencafé gerät zur Pantomime. Die Bedienung versteht kein Wort, lächelt aber zustimmend, als wir mit "Muhmuh" und "Kikeriki" zu erkunden suchen, mit welchem Fleisch die leckeren Teigtaschen gefüllt sind.

Ein weiteres Abenteuer ist die Fahrt in der ratternden Metro, in der wir uns fühlen wie in einer Sardinenbüchse. Schweißgebadet steigen wir nach ein paar Stationen aus und stolpern fast auf der Rolltreppe, die in hoher Geschwindigkeit dem Ausgang entgegenrast. Eine junge Deutsche, die seit längerer Zeit in Kiew lebt, warnt uns vor Taschendieben, die hier allgegenwärtig sein sollen. Besonders aktiv würden die in der gerammelt vollen U-Bahn, in der mit regelmäßig das Licht ausfalle. Nein, zu Aggressionen mit Fäusten oder gar Messern komme es hier äußerst selten, denn - Zitat - "die Ukrainer besitzen ein hohes Maß an über Jahrhunderte praktizierter Leidensfähigkeit". Kein Wunder, wie ein Spielball gingen sie in ihrer Geschichte von einer fremden Hand in die nächste. Mongolen, Osmanen, Tartaren - die ganze Palette. Und schließlich fiel die Westukraine für lange Zeit unter die Herrschaft der Habsburger, während der Osten von den russischen Zaren vereinnahmt wurde.

Inzwischen sind wir an den Ufern des Dnjepr gelandet. Träge fließt der breite Fluss dahin. Hier und dort blitzen weiße Boote auf, winken Freizeitkapitäne uns zu. Mit der freundlichen Frau am Kiosk, die uns würziges Bier für umgerechnet 70 Cent auf einem in Windeseile zusammengebauten Tisch serviert, kommen wir prächtig zurecht. Auch hier funktioniert unsere bereits erprobte Zeichensprache. Sogar ihren Namen erfahren wir. Das blonde Kind heißt Natalya und zählt 27 Lenze, wie sie uns an ihren Fingern abzählt. Sie kann nicht klagen. Ihre Geschäfte laufen gut. Besonders mit Deutschen, die sie, wie sie uns mit Kusshändchen zu verstehen gibt, besonders gern hat. In unmittelbarer Nachbarschaft "tauft" ein in Schwarz gehüllter Pope einen nagelneuen Audi mit angeblich geweihtem Wasser. Die beiden Besitzer stehen ernst daneben und bekreuzigen sich. Das ist hier so üblich, erfahren wir, dieses Ritual garantiert den Fahrern stets unfallfreie Fahrten. Auch uns verpasst der Priester eine kleine, fatal nach Chlor schmeckende Dusche.

An lauen Tagen wird die von Häusern der Belle Epoque und protziger Zuckerbäckerarchitektur der Stalin-Ära gesäumte Prachtmeile Kiews, die Chreschtschatyk, zum Laufsteg. Wer einen guten Standort ergattert hat, kann sich am Defilee langbeiniger Mädchen in Hot Pants und Kreationen aus Leder und Latex erfreuen. Böse Zungen behaupten, der Frauenüberschuss zwinge die jungen Damen, ihre Reize vor möglichst wohlhabenden Ehekandidaten öffentlich ins rechte Licht zu rücken. An reichen Männern mangelt es nicht. Wo hat man je derart viele Porsches, Touaregs, Bentleys und Mercedes der S-Klasse auf so engem Raum gesehen? Schicke Boutiquen, in denen Markenartikel angeboten werden, und hochpreisige Hotels sind stark frequentiert. Und an den Tischen der feinen Restaurants muss es Kaviar sein. Der wird im Übrigen zu attraktiven Preisen auch in der Bessarabischen Markthalle angeboten. Aber Vorsicht - es handelt sich hier angeblich um einfachen Fischrogen, in Kaviardosen abgefüllt. Da halten wir uns lieber an Borschtsch, den leckeren ukrainischen Gemüseeintopf. Am besten schmeckt der in einfachen Lokalen.