Noch ist die polnische Küste ein Geheimtipp. Die Preise sind günstig, die Sandstrände einladend. Und in den Badeorten wird sogar Deutsch gesprochen

Stanislaw Walo ist zufrieden mit dem heutigen Fang. Um 4 Uhr früh ist er mit zwei Kollegen auf die Ostsee hinausgefahren, um die Netze einzuholen. Jetzt, um halb zehn, kommt er mit Kisten voller Schollen und Steinbutt zurück. Bis zu 500 Kilo sind es an guten Tagen.

Möwen umkreisen den Holzkutter. Am Strand stehen die Sommerfrischler und beobachten das Einlaufen. Für sie ist es ein unterhaltsames Spektakel, für die Fischer sehr mühsam. Denn Niechorze, das alte Seebad Horst, hat keinen Hafen. Der voll beladene Kutter muss mit einer Elektrowinde an einem Stahlseil auf den Sandstrand gezogen werden. Schließlich springt Stanislaw ins knietiefe Wasser und hilft mit Muskelkraft, das Boot an Land zu bringen. "Die Arbeit ist hart, sehr hart. Aber ich liebe sie", sagt er, während er uns zwei Schollen verkauft.

Frischeren Fisch bekommt man nirgends. Günstigeren wohl auch kaum: Umgerechnet einen Euro bezahlen wir pro Scholle. Einige Touristen kaufen Stanislaws Frau Marta Fische ab, während er die Kisten auf einen Treckeranhänger für den Großhändler verlädt. Stanislaw ist einer der letzten fünf hauptberuflichen Fischer des Ortes, die das ganze Jahr über täglich hinausfahren. Bald könnte sich sein Leben verändern. Es gibt Pläne für einen Yachthafen, allein die Finanzierung steht noch nicht.

Niechorze ist eines der schönsten von vielen kleinen Fischerdörfern und Seebädern, die sich dicht am langen weißen Strand der polnischen Ostseeküste von Swinemünde bis zur Danziger Bucht aufreihen. Unsere Reise beginnt östlich von Usedom auf der Insel Wolin. Der Urlaubsort Miedzyzdroje, 17 Kilometer von Swinemünde entfernt, war schon vor 170 Jahren Kurort. Damals hieß er Misdroy. Wo einst Männer und Frauen getrennt in Holzanlagen badeten, tummeln sich heute deutsche und polnische Familien. Pärchen schlendern über die sorgfältig renovierte Mole aus dem Jahr 1913. Kinder essen frisch gebackene Waffeln und Eis.

Die Schreie der Möwen mischen sich mit dem Klang der Musik, die laut aus den vielen Fischrestaurants und knallbunten Souvenirständen tönt: "La Bamba", amerikanische und polnische Hits. Unten am Strand rennt die kleine Olga, zweieinhalb, lachend ins flache Wasser. "Es ist ideal für Kinder hier", sagt ihre Mutter Marta aus Lodz. Ein paar Meter weiter bauen die beiden Söhne der Familie Conrad aus Berlin kunstvolle Sandburgen. "Wir sind nur hier, weil mein Mann geschäftlich in Swinemünde ist", sagt die Mutter. "Sonst machen wir Urlaub auf Fehmarn. Aber hier ist es auch schön und viel günstiger." In den meisten Hotels und Restaurants wird sogar Deutsch gesprochen. "Wir haben schließlich sehr viele Gäste aus Deutschland", sagt Anna Marczak, Hoteldirektorin des Vier-Sterne-Hotels Amber Baltic.

Nur einen kurzen Fußweg von der Strandpromenade entfernt beginnt das Naturidyll des Wolinski-Nationalparks, der mit 11 000 Hektar einen Großteil der Insel ausmacht. Hier gibt es Feuerschlangen, Otter und 200 verschiedene Vogelarten, darunter Seeadler und Bienenfresser. Drei ausgedehnte Wanderpfade führen durch unterschiedliche Landschaften, Wald, Küste, Haff und Seen. "Für Kinder sind die Tiergehege im Reservat der Wisente natürlich die größte Attraktion", sagt die Biologin Aleksandra Kudei von der Parkverwaltung. Inmitten eines Kiefern- und Buchenwaldes liegen fünf massige Tiefland-Wisente faul in ihrem großen Gehege. In freier Wildbahn sind die Tiere seit 1919 ausgestorben.

Am Gatter nebenan ruft die Nationalpark-Angestellte Krystina Wiese ihren Liebling Filip heran: "Moj piekny, moj malutki!", "Mein Hübscher, mein Kleiner!" Schon kommt er angerannt, ein riesiger Wildschwein-Keiler, zur großen Freude der Kinder.

Wir folgen der Küstenstraße nach Osten. 15 Kilometer hinter Miedzyzdroje steht ein unscheinbares Schild: "Grodno II", dazu ein paar Worte in polnischer Sprache. Der holprige Weg führt zu einer Ferienanlage mit sozialistischem Charme, die mitten im Wald auf der Steilküste thront. Über einen steilen Pfad erreichen wir den Strand. Eine kleine Gruppe deutscher Urlauber ist dort, sonst niemand. "Wir sind zum ersten Mal in Polen, Freunde kannten diesen Geheimtipp", sagt ein Hamburger Familienvater. "Es ist traumhaft, kein Mensch weit und breit. Die Unterkünfte sind einfach, aber das macht uns nichts aus. Für zwei Erwachsene und drei Kinder bezahlen wir 80 Euro die Nacht."

"Die Preise hier in Polen sind attraktiv, gerade für Familien mit Kindern", sagt auch Eckhard Buttenschön. Der 51-jährige Deutsche und seine polnische Frau Ania vermieten gut ausgestattete Ferienapartments in einer sanierten Gründerzeitvilla direkt am Strand von Niechorze - dort, wo Stanislaw und die anderen Fischer ihre Kutter hochziehen. "Wir haben aber nicht nur Familien hier, sondern auch Gäste, die sich jeden Luxus-Urlaub leisten könnten. Die wollen hier vor allem zur Ruhe kommen, entspannen und die unberührte Natur genießen." Und die gibt es hier zu Genüge.

Niechorze liegt abseits der Küstenstraße zwischen dem Strand und dem Naturschutzgebiet Eiersberger See. Der Wald im Osten ist Militärgebiet, heute ist nur noch ein Bruchteil davon in Betrieb. Mit Fahrrädern radeln wir frech am Schlagbaum vorbei auf die alte Kopfsteinstraße, die durch Wälder und Dünen führt. Das Schild davor ignorieren wir. "Militärzone. Eintritt verboten", steht dort auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Russisch. Bald wird hier ein neuer, offizieller Radweg angelegt. Wir radeln durch Kiefern- und Buchenwald. Nur eine einzige Frau kommt uns entgegen. Von der 15 Meter hohen Steilküste blicken wir auf den Strand, der sich fast ohne Unterbrechungen mehr als hundert Kilometer von der Insel Wolin bis nach Kolberg erstreckt. Hier ist er menschenleer.

Zurück radeln wir landeinwärts durch das Städtchen Trzebiatow, früher Treptow. Die gotische Marienkirche ist größer als die in Krakau. Wir kommen durch kleine Dörfer, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Statt Autos sind Hühner auf der Straße, einmal weichen wir einer galoppierenden Kuh aus. Wir überqueren die Schienen der dampfbetriebenen Schmalspurbahn, die zwischen den Badeorten Trzesacz, Rewal, Niechorze und Pogorzelica verkehrt. Im Dorf Sadlnow steht eine frühgotische Kirche mit Holzturm, auf dem Anger davor grast ein Pferd.

Die Buttenschöns leben nur noch im Winter in Deutschland, sonst in der schönen Villa Rybak 3 in Niechorze, in der auch die Ferienappartements sind. "Es dauert natürlich, bis man im Dorf dazugehört. Aber es wird langsam", sagt Buttenschön. Schon als Student zog es ihn nach Polen, "aus Abenteuerlust und weil ich die Mentalität mag. Die Leute sind freundlich und lebenslustig." Auch die Touristen mögen die Herzlichkeit der Polen, die nicht umsonst als die Südländer des Ostens gelten. "Warum ich hier urlaube? Ganz einfach: Es ist billig, und die Leute sind warmherzig", sagt auch ein Tourist aus Schwerin.

An der polnischen Ostseeküste findet man noch einsame Strände, selbst im Juli und August, wenn in ganz Polen Schulferien sind und die Badeorte aus allen Nähten platzen. Zum Beispiel bei Drzwirzyno, zwölf Kilometer vor Kolberg. Vom Fünf-Sterne-Hotel Havet führt ein kleiner Fußweg zum breiten, kilometerlangen Sandstrand. Durch die hohen Dünen ist er schwer zugänglich.

In der Kreisstadt Kolberg sind wieder mehr Touristen unterwegs. Die Strandpromenade ist gesäumt von bunten Ständen, an denen echter und falscher Bernstein feilgeboten werden. Deutsche Heimwehtouristen, Kurgäste und junge Familien schlendern durch die Altstadt. Man sieht nicht, dass sie im Krieg fast vollständig zerstört wurde. "Die Gebäude wurden originalgetreu wieder aufgebaut", sagt Stadtführerin Dagmara Bolda in perfektem Deutsch. Die Sprache hat sie in Hamburg gelernt, "meiner Lieblingsstadt!". Sie hat das ganze Jahr über gut zu tun, denn Kurbetrieb herrscht auch im Winter.

Dank seiner natürlichen Solequellen, der Seeluft und den Heilmooren ist Kolberg ein beliebter Kurort. Und das war schon im 19. Jahrhundert so.

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