Österreichs Hauptstadt zeigt gern seine Barockpracht her - viel interessanter ist jedoch, was dort um das Jahr 1900 entstand.

Wien. Seit Herbst 2010 hat Wien zwei Helden. Berndt und Irmgard Querfeld haben das "Café Museum" nahe dem Karlsplatz gerettet, das jahrelang im Koma lag. Es gehört zu den authentischsten Kaffeehäusern der Metropole. 1899 wurde es eröffnet, der berühmte Architekt Adolf Loos war für Interieur, Gestaltung und Design zuständig und verpasste dem Lokal eine neuartige elektrische Beleuchtung aus halb versteckten Lampen und Mobiliar ohne Plüsch. Das war avantgardistisch. Größen wie Gustav Klimt, Oskar Kokoschka, Egon Schiele oder Robert Musil hielten hier Hof, diskutierten und schauten den Serviererinnen hinterher, die aus dem "Konditoreiwagerl" Mehlspeisen kredenzten. Das war die große Zeit des Ecklokals mit seinen breiten Fensterzügen.

Spätere Betreiber haben das missverstanden. Mehrere versuchten, das in die Jahre gekommene Kaffeehaus schick aufzumöbeln, zuletzt 2003. Doch das geriet nicht cool, sondern kalt. Wiener boykottierten das Lokal, Touristen blieben nicht lange. Das Ehepaar Querfeld dagegen, dem auch das "Café Landtmann" und andere Kaffeehäuser in Wien gehören, setzt auf Gemütlichkeit. Eine halbe Million Euro wurde investiert, 200 Sitzplätze geschaffen, bei der Ausstattung war das Original Vorbild, nicht der Zeitgeist. Der Einbau von Sitzlogen, kleinen Tischen und Metallkugeln als Beleuchtung dauerte mehrere Monate. Nun freut sich das kaffeeselige Wien. "Man kann das nicht hoch genug einschätzen", sagt der Historiker Gerhard Strassgschwandtner. "Die meisten Kaffeehäuser gehören heute Banken, die wollen nur Profit rausholen. Nur der ,Bräunerhof' und nun das ,Café Museum' haben die Tradition und damit die Leute im Blick, die das in Wien suchen."

Wien will seine Avantgarde wieder, Belle Epoque und Jugendstil, die Stadt um 1900, als sie herausragende Leistungen in Architektur, Literatur, Malerei und Musik in einmaliger Dichte hervorbrachte. Erstaunlich viel aus dieser Epoche ist erhalten, es war nur bis vor Kurzem überdeckt von diesem Dadadam-dadadam-dadadamdada-Walzer-Barock-Protz der Kaiserzeit, die 1918 mit der Abdankung der Habsburger endete. Doch neben der Hofburg, allgegenwärtiger Mozartmusik und den Fiakern erheischen geometrische und florale Muster der Aufbruchszeit Aufmerksamkeit. Sachlichkeit statt Historismus, Baukunst mit neuen Materialien und Formen anstelle überkommener Bauweisen. Wer in Wien herumläuft, auch im historischen Zentrum, dem ersten Bezirk, entdeckt Wohnhäuser, Geschäfte, Amtsgebäude und Bahnhöfe im Jugendstil, sogar eine katholische Kirche - die am Steinhof -, erbaut von Otto Wagner, dem Intimfeind des rückwärtsgewandten Kaisers Franz Joseph. Wien katapultierte sich für rund drei Jahrzehnte zu einer der Hauptstädte des europäischen Jugendstils. Und dieses Wien ist uns Heutigen viel näher als der Muff der Hofburg und der Nepper und Schlepper mit gepuderten Mozartschopfperücken am Michaelerplatz.

Das Hotel "Bristol" zum Beispiel, 1892 an der Fußgängerzone Kärntner Straße eröffnet, konserviert bis zum letzten Thonet-ähnlichen Stuhl nach wie vor das exklusive Ambiente der Belle Epoque, wie der Jugendstil auch tituliert wurde. Ebenso das Hotel "Imperial" am Wiener Ring, das erst Privatresidenz eines Fürsten war, dann für die Weltausstellung 1873 zum Nobelhotel aufgepeppt wurde. Das ist es bis heute. Nicht weit weg, nahe dem Naschmarkt, steht die Keimzelle des Wiener Jugendstils, das Gebäude der Secession, benannt nach einer gleichnamigen progressiven Künstlervereinigung. Joseph Maria Olbrich entwarf es, Gustav Klimt besaß 1902 die Frechheit, drei Nackte mit Schamhaar in den Fries zu meißeln, und das Gebäude mit den goldenen Lorbeerblättern auf dem Dach entging nicht dem Wiener Schmäh, der ihm den Namen "Krauthappl" (Krautkopf) gab. Heute gehört es zu den beliebtesten Ausstellungshäusern.

Ein Skandal war 1911 auch das Looshaus am Michaelerplatz, nüchterne Architektur als Frontansage an das überdekorierte Tor der Hofburg. Als die Fassadenverkleidung fiel, kam der Kaiser, sah und ergrimmte. Kein Stuck, stattdessen ein mit Marmor verkleidetes Hochparterre. Adolf Loos betrachtete den Ornamentverzicht als "Zeichen geistiger Kraft", Franz Joseph sah darin ein "Scheusal". Ja, Geschmäcker sind verschieden. "Die Habsburger waren ultrakonservativ", donnert Experte Gerhard Strassgschwandtner. Soll heißen: Deshalb ging ihr Reich unter.

Auch das Handwerk wurde vom Jugendstil-Aufbruch befeuert. Das lässt sich bei Backhausen, einem Interieurgeschäft, begutachten. 1849 von einem "Zugeraasten" aus Brühl gegründet, hält es die Tradition der berühmten Wiener Werkstätte hoch. Nahezu alle Accessoires, die zum Verkauf stehen, basieren auf alten Entwürfen. Erst brachten mechanische Webstühle den Durchbruch, ab 1860 die maschinelle Möbelproduktion. Die Möbel- und Vorhangstoffe, Wandbespannungen und Teppiche des Geschäfts schmücken Rathaus, Staatsoper, Museen und Wohnungen von Leuten, die sich die hochwertigen Materialien leisten können. Alles ist recycelbar, kein Plastikramsch steckt darin. 600 Quadratmeter große Teppiche, von Hans Hollein designt - kein Problem bei Liquidität. Von jedem Stoff, jedem Design hält die Manufaktur 50 Kilometer auf Lager, der eigene Lkw-Service bringt die Kunststücke zum Kunden. 60 aktiv zuarbeitende Künstler und 300 Mitarbeiter gehören zum Beglückungs-Bataillon. Das hat seinen Preis, aber Kunden in mehr als 40 Ländern leisten sich das. Dass das eine solche Geldmaschine wird, hätten die Künstler, die 1903 die Wiener Werkstätte gründeten, nicht gedacht.

Wien modern. Darauf ist der Besucher, der Barock erwartet, nicht vorbereitet, aber angenehm überrascht. Es gibt Österreichs Hauptstadt jenseits aller Klischees. Zu spüren beim Abendessen im Restaurant "Motto am Fluss" am Donaukanal. Langsam kehrt Wien zu seinem Fluss zurück, die Rundfahrtschiffe erleben Zuspruch wie nie zuvor. Beim Absacker in der "Loos American Bar" von 1908 muss man Nähe ertragen können - sie ist jede Nacht überfüllt. Wiens Jugendstil liegt eben im Trend.