Seit April 1986 steht Tschernobyl für den atomaren Super-GAU - ein Vierteljahrhundert später boomt das Geschäft mit Ausflügen in die Todeszone

Es regnet Bindfäden, als der kleine Bus sich knatternd vom "Maidan", Kiews protzigem Haupt-Platz, in Bewegung setzt. 14 Leute, mehr Männer als Frauen, haben sich in den engen Sitzen verstaut, fast jeder Platz in dem alten Mercedes-Vehikel ist besetzt. "The trip is absolutely safe", ruft Sergej, einer der Guides, zur Begrüßung in die Reihen, als könne er Gedanken lesen. "Der Ausflug ist absolut sicher." Und als würde das nicht reichen, schiebt er gleich noch hinterher: "Bei Regen ist alles noch sicherer", dann nämlich ist nicht so viel Staub in der Luft. Sicher - sicherer: Gibt es die Steigerung? Entweder sicher - oder nicht. Braucht es da Regen? Nun, keine Zeit für grammatikalische Spitzfindigkeiten: Es geht nach Tschernobyl.

Ein Vierteljahrhundert ist es am 26. April her, seitdem sich jene fatale Kettenreaktion in Gang setzte, die der Angst vor der zivil genutzten Atomkraft ein Gesicht gab: Eine in Block vier der Reaktoranlage von Tschernobyl gestartete Stromausfall-Simulation scheiterte, es kam zur Kernschmelze und Explosion, in deren Folge große Mengen radioaktiver Materie freigesetzt und quer über Europa verteilt wurden. "Tschernobyl" ist bekannter als die Ukraine selbst. Überall auf der Welt kennt man den Ort, hier ist passiert, wovor die ganze Welt Angst hatte. Und nach dem atomaren Unglück in Japan nach wie vor hat.

Seit 1999 veranstaltet Solo East Travel Ein- und Mehrtagesausflüge in die "Todeszone", auch andere Agenturen wie "Hamalia", die mit "ökologischen Touren" wirbt, hat dieses touristische Feld für sich entdeckt. Im Jahr 25 nach der Katastrophe verspricht der Markt sogar noch größer zu werden: Die ukrainischen Behörden lockern die Bedingungen für den touristischen Zugang zur Sperrzone, selbst im offiziellen Tourprogramm der Fußball-Europameisterschaft von 2012 gehört "Tschernobyl" zu den Besuchszielen. An Bord des Busses sitzt diesmal eine bunte Mischung: Deutsche, Schweden, US-Amerikaner; vermutlich würde kein Ukrainer auf den Gedanken kommen, mitzufahren. Für sie ist Tschernobyl nah genug, hier ist Alltag, was als nervenkitzelnder Ausnahme-Ausflug zu buchen ist.

Gut zwei Stunden knattert der Bus über Landstraßen, Ikonenbildchen an der Windschutzscheibe, dazu ein am Rückspiegel baumelnder Rosenkranz wachen über unseren Weg. Dünn besiedelt ist die Region. Wälder, Wiesen, ein paar triste Dörfer rauschen vorbei. Mehr noch als der Blick nach draußen bindet eine knapp zweistündige Dokumentation die Aufmerksamkeit der Atom-Touristen. Gorbatschow kommt darin vor, Liquidatoren erzählen ihre Geschichte, und Leo Kostin, der berühmte Fotograf und Chronist des Unglücks, berichtet seine Erlebnisse der ersten Stunde: Dass die Radioaktivität Bilder schwarz werden ließ und später gleißende Lichtschimmer aus dem Graphitstaub am Boden emporstiegen, dass die hohe Radioaktivität selbst die Elektronik von Robotern zerstörte, die die Trümmer des Reaktordaches beseitigen sollten, weshalb schließlich doch "bio robots" - sprich: Menschen - eingesetzt wurden. Beklemmend ruhig ist es im Bus, während der Film läuft. Immer wieder geht es um die sowjetischen Beschwichtigungen der ersten Stunden und Tage, "absolut kein Risiko" bestehe für die Menschen. Ein bisschen erinnert diese trügerische Ruhe an Sergejs Worte eine Stunde zuvor.

Bis heute ist es schwierig, genaue Opferzahlen zu nennen: Sie pendeln zwischen einigen Hundert bis zu knapp 100 000 - keiner weiß es genau, verlässliche Studien gibt es nicht. Stattdessen ist es immer wieder dasselbe Bild, das beschworen wird: Ein "unsichtbarer Feind" habe die Menschen dahingerafft, Feuerwehrleute und Militärs sprechen von einem "Krieg", der heldenhaft geführt wurde. Trägt Jurij, der heute durch die Todeszone vorbei an gleich zwei Denkmälern (post-)sowjetischen Heldenkults führen wird, deshalb eigentlich auch paramilitärische Kluft?

Kaum ist die Dokumentation vorbei, taucht eine Straßensperrung auf. Wir sind da. Hier beginnt sie, die "Todeszone". Papiere und Pässe werden kontrolliert, langsam und doch irgendwie schnell geht es - und wir passieren die Grenze ins Niemandsland. Dante geht mir durch den Kopf, wer hier eintritt, lässt alle Hoffnung fahren, der Hals bleibt merkwürdig zugeschnürt. Die erste Station, etwa zehn Minuten später: Der Ort Tschernobyl, wo mittlerweile ein Dokumentationszentrum steht. Jurij, unser eigentlicher Führer heute, wartet hier auf seine Gruppe - durch die Hölle braucht es traditionell einen Führer. Es gibt einen kleinen Vortrag zur Einstimmung, Jurij erklärt mit Zeigestock und Tafelbildern den Zug radioaktiver Wolken über die Ukraine, Russland, Europa. Nicht lange dauert das, wir würden ja lieber selbst sehen wollen, sagt er. Was folgt, ist zunächst eine kleine Tour durch das menschenleere Tschernobyl. Einsame Häuser und einsame Straßen sind hier, trostlos wirkt die Gegend - dabei: So einsam ist es an sich nicht. Einige Tausend Menschen arbeiten in dieser Gegend: Leute, die sich darum kümmern, dass keine Waldbrände ausbrechen oder die verbliebenen technischen Anlagen versorgt werden - immerhin: Der Sarkophag ist mürbe geworden, eigentlich sollte er spätestens 30 Jahre nach dem Unglück ausgetauscht sein.

Die kleine Gruppe stoppt an einem kleinen Maschinenpark mit Panzern, die beim Räumen geholfen haben, jeder kriegt ein Dosimeter in die Hand gedrückt, die messen die Strahlung: Alles im grünen Bereich, die Werte pendeln irgendwo bei 0,2 Mikrosievert, wenig mehr als die natürliche Strahlung. Das wird sich jedoch bald ändern. Wir fahren weiter, immer näher heran an das Ungetüm, Reaktor vier - eigentlich sträubt sich alles in mir, irgendwie ist die Richtung falsch. Mein Gefühl sagt mir: weg hier. Mein Verstand möchte dorthin, wo geschehen ist, was die Welt veränderte. Unwirtlich, unwirklich wird die Gegend der Reaktoranlagen: Überall stehen Hochspannungsleitungen, die noch lange nach dem Unglück Strom aus den intakten und bis zum Jahr 2000 weiter am Netz gebliebenen Reaktoren ins Land leiteten. Immer wieder kreuzen wir rot-gelb leuchtende Atom-Warnschilder. Die Dosimeter fiepen stärker, ein unangenehmes Geräusch, und dann taucht er auf: Block 4. Man sieht ihn schon aus einiger Entfernung, wir fahren näher heran, steigen aus. Die meisten schießen Erinnerungsfotos, mit sich selbst, dem Kraftwerk und Dosimeter, das nunmehr die ungefähr 50-fache Dosis der Normalstrahlung anzeigt. Fast so, wie vor dem Eiffelturm oder der chinesischen Mauer. Fast. Befremdlich ist das Gefühl, hier zu sein. Nichts deutet auf Gefahr hin, Vögel zwitschern, die Sonne scheint inzwischen ein wenig. Wenn da nicht das Wissen wäre.

Jurij, der Führer, hat einen eigentümlichen Job, aber er steht dahinter. "Jeder Job kann gefährlich sein", sagt er. In Kiew möchte er wegen der Luftverschmutzung nicht arbeiten, selbst vor dem PC kann man seine Gesundheit gefährden. Seit elf Jahren ist er dabei, "es ist mein Job, also mache ich ihn", meint der 38-Jährige. Schnell geht es weiter, je länger der Aufenthalt vor dem Reaktor, desto größer das Gesundheitsrisiko. Die nächste Station: Prypjat - eine Geisterstadt, etwa vier Kilometer vom Reaktor entfernt. Hier, in dieser einst knapp 50 000-Einwohner-Stadt, einer sowjetischen Mustersiedlung, zeigt sich erst der ganze Albtraum des Unglücks: Drei Tage nach dem Unfall wurde der Ort innerhalb von drei Stunden evakuiert. Ursprünglich glaubten die Menschen, sie könnten innerhalb kurzer Zeit zurückkehren - stattdessen mussten sie in Kiewer Satellitenstädten ein neues Leben beginnen.

Der Streifzug lässt Stationen so vieler Leben aufflackern: Ein altes Theater gibt sein Bühneninventar preis, es geht über den Stadtplatz bis zum vielleicht bizarrsten Symbol dieses verlorenen Ortes - ein Vergnügungspark mit rostenden Autoscootern und mürbem Riesenrad. Auch im Sozialismus hätten die Kinder hier gelacht, doch dazu kam es nicht: Niemals sind hier Jungen und Mädchen mitgefahren, eingeweiht werden sollte der Park am 1. Mai 1986, fünf Tage nach dem Unglück. Sozialistischer Vorzeige-Bau ist in Prypjat auf seltsame Weise konserviert - in leeren Straßen, den verfallenden Wohneinheiten der Hochhäuser, einem Schwimmbad mit Sprungturm oder der Schule, wo noch unzählige Bücher herumliegen, die für niemanden mehr einen Wert haben. "Keine Zukunft" ist hier die stille Überschrift von allem, was blieb. Überhaupt, dieses Land hatte viel zu verkraften. Die Deutschen töteten weite Teile der jüdischen Minderheit, der Zweite Weltkrieg brachte noch mehr Tote, der Sozialismus zerstörte viel von dem, was insbesondere an durch die orthodoxe Religion geprägte Kultur erinnerte - und dann macht Tschernobyl kaputt, was an unberührter Natur geblieben ist, zerstört Zigtausende von Leben.

Was aber kann man hier als Reisender suchen - und finden? Ist "Chernobyl" der letzte Nervenkitzel für jene, denen Rafting-Touren und Bungee-Jumping zu langweilig werden? Für manche vielleicht. Für andere nicht. Denn genauso gut ist ein Besuch der "Todeszone" ein Lehrstück über Wert und Gefährdung von Leben - und darüber, welches Glück es darstellt, Gemüse, Obst, Fisch und Beeren nahezu bedenkenlos zu essen, Luft frei zu atmen, Kinder im Sand spielen lassen zu können.