Das spektakuläre neue Konzerthaus der Stadt von Architekt Frank Gehry bietet Konzerte mit Meerblick

Zwei ältere Damen auf Campingstühlen, Mütter mit Kleinkindern in Buggys, Cliquen mit Champagner auf Picknickdecken. So ungewöhnlich kann ein klassisches Konzert-Publikum aussehen. Ort des Ereignisses: Miami, kaum 300 Meter vom Strand entfernt. Anlass: Die Eröffnung des spektakulären neuen Konzerthauses von Star-Architekt Frank Gehry für die New World Symphony, ein in der Welt einzigartiges Lehrorchester. "Ich bin in Shorts gleich vom Strand gekommen", sagte Werbefilmer Ben Harper. "Das ist genau das, was Miami fehlte", stimmte ihm begeistert Martha Rodnick zu, eine 46-jährige Hausfrau. Wie viele andere hatten sie Wolldecken, Schals und warme Jacken dabei, denn auch im tropischen Florida kann es im Winter abends abkühlen. Der Begeisterung tat das keinen Abbruch: Fasziniert starrten die Open-Air-Zuhörer auf die 650 Quadratmeter große Frontseite der Musikhalle. Wie auf einem Riesen-iPad, sieben Stockwerke hoch, erschienen dort Nahaufnahmen von vibrierenden Fingern auf Cello-Seiten - eine inszenierte Direktprojektion des laufenden Konzertes, kristallklar und hochaufgelöst, bei bester Soundqualität.

Der 160-Millionen-Dollar Bau, der - im Gegensatz zur Hamburger Elbphilharmonie - im Kosten- und Zeitbudget blieb und in drei Jahren fertiggestellt wurde, verändert die Sonnenscheinmetropole Floridas. Die Musik spielte in Miami immer am Strand. Jetzt kommt, so scheint es, der Strand zur Symphonie. Das kultige Miami, stets ein bisschen überdreht, laut und schrill, wird kulturig. Die Wandlung der Partyzone zum Kunst- und Design-Mekka - durch Messen wie Art Basel Miami Beach und Design Miami eingeläutet - wird durch den ultramodernen Klassiktempel noch gekräftigt. Dabei ist die Stadt, deren Bewohner durchschnittlich nur 25 000 Dollar im Jahr verdienen, eine der ärmsten der USA - aber eben auch, mit ihren schrillen Farben und dem seit 1980 zum Juwel restaurierten Art-déco-Bezirk, ein Gesamtkunstwerk.

Neue Stadtteile, diesmal auf dem Festland und nicht mehr auf der Strandzunge South Beach, machen von sich reden: das ehemalige Industrieviertel Wynwood mit innovativen Galerien und Straßenkunst und der nördlich anschließende Design Distrikt mit fast hundert Deko-Trendläden und Kneipen. Noch ein Festland-Hit: Das verwitterte Vizcaya-Anwesen in Coconut Grove. Das 70-Zimmer-Herrenhaus voller europäischer Kunstschätze aus vier Jahrhunderten demonstriert prächtig, was in Amerika als historisch gilt. Das voll möblierte Palais mit Holzsteg und Gondeln sieht aus wie ein Palast in Venedig - und ist doch nur ein gut gemachter Nachbau aus dem Jahr 1914. Ganz in der Nähe das besichtigenswerte Rathaus von Miami - in der Original-Abfertigungshalle der Fluglinie Pan Am aus dem Jahre 1930.

Lichterketten winden sich um Palmenbäume, kubanische Rhythmen pulsieren durch die Nacht. Während Künstler und In-Crowds in Miamis schicken neuen Bars wie "Maitardi", "Soho House", "Casa Tua" oder im Art-déco-Klassiker "Raleigh Hotel" weitgehend unter sich bleiben, will ausgerechnet die extravagante Gehry-Symphony die Ästhetik an die Basis transportieren. "Wir wollten anspruchsvolle Musik zu den Menschen bringen. Das ist uns gelungen", freute sich Michael Tilson Thomas nach der weltweit beachteten Eröffnung. Im Takt des charismatischen Direktors und Chefdirigenten der New World Symphonie scheint Miami in diesen Tagen zu schlagen: Die Symphonie ist das Lebenswerk des 66-Jährigen, vor 24 Jahren gründete er das einzigartige Biotop für Spitzentalente. Junge Musiker können bei ihm nach ihrem Masterabschluss drei Jahre musizieren und experimentieren, bevor sie von Konzerthäusern in aller Welt abgeworben werden.

Auch seine Allianz mit Stararchitekt Gehry ist außergewöhnlich: Der inzwischen 81-Jährige war vor Jahrzehnten Michael Thomas' Babysitter in Los Angeles, die Familienfreundschaft hat gehalten. Gehrys Konzertbau in Miami - insofern wohl eine Herzensangelegenheit - präsentiert sich als bauliches und technisches Meisterwerk: von außen ein eher unauffälliger weißer Kubus mit gläserner Eingangsfront, von innen grandios und Gehry-typisch verschachtelt, mit 33 einsehbaren Proberäumen und einem intimen Konzertsaal für 756 Zuhörer, die von allen Seiten nah um das Orchester herum sitzen. Barock wechseln Solisten auf unterschiedliche Bühnen zwischen den Zuschauern; zur Eröffnung gab's Schubert in Deutsch mit englischer Übersetzung an die Wände gestrahlt. Zukunftsweisender Taktgeber will die Symphonie auch in Sachen 2.0-Klassik sein: Global vernetzt, sind professionelle Aufnahmen und Live-Streams in alle Welt möglich. Auf Riesen-Screensegeln über der Bühne laufen eigens inszenierte Musikvideos; 150 Lautsprecher in einer Art Ballettstange übertragen das Konzert nach draußen.

Zu viel Pop für Klassik? Ein Technik-Gau hinter den Notenpulten? "Wer die alten Meister ins 21. Jahrhundert retten will, kann nicht anders", sind die Macher der Symphonie überzeugt: "Ein fantasievolles Konzerthaus allein genügt heute nicht mehr." Für die technische Spitzenleistung - unter anderem eine akustische Versiegelung, wie sie für die Hamburger Elbphilharmonie angestrebt wird - zeichnet gemeinsam mit dem japanischen Spezialisten Nagata Acoustics die US-Firma Radiustrack aus Minnesota verantwortlich. Chefingenieur Chuck Mears führte während der Eröffnungswoche hinter die Kulissen. "Es war schwierig", sagte er in die schier greifbare Stille eines Proberaums hinein, "aber nicht unmöglich", zumal "Bauzeit und Budget-Plan unverrückbare Größen" gewesen seien. Kann er sich die Hamburger Probleme erklären? "Man hätte uns fragen sollen", meinte Mears schmunzelnd, und gab einen kleinen Hinweis: "Akustik und Statik darf man nicht vermischen." Rund 80 Konzerte pro Jahr soll es in Miamis neuem Konzerthaus geben, zweimal im Monat mit Außenübertragungen. Karten kosten zwischen 2,50 und 100 Dollar.

Vom Woodstock der Symphonie zur Theke der Kunst - auch eine Erfindung des neuen Miami. "Unsere Idee ist, museumsreife Weltklasse-Kunst in einem Restaurant jedem zugänglich zu machen", sagt Jessica Goldman, 40. In Jeans und Cowboy-Stiefeln führt die attraktive Millionenerbin ganz lässig durch ihr jüngstes Projekt, die "Wynwood Kitchen & Bar". In der vor wenigen Monaten eröffneten Brasserie mit Chef Marco Ferraro hängen, draußen wie drinnen, Graffiti von Weltrang, etwa von Shepard Fairey, der mit seinen Pop-Bildern die Kampagne von Barack Obama begleitete. Die Familiendynastie "Goldman Properties", als urbane Erneuerer vielfach geehrt, macht aus Slums In-Viertel: Gentrifizierung, schimpfen die einen, Revitalisierung heruntergekommener Stadtteile, loben die anderen. In Miami sieht das so aus: Es gibt Bio-Burger und hausgemachte Würstchen mit Joghurt-Dip, dazu 40 Biersorten und regen Zuspruch aus dem neuen Künstler-Viertel Wynwood.

Wird Miami das neue New York? "Nein", meinte der legendäre Gary Nader, der in seiner Galerie im Design Distrikt ein wenig verstimmt klingt: "Miami bietet heute schon mehr Kunst als Käufer." Naders 15 000 Quadratmeter-Kunstwarenhaus hat Museumsmaße und die größte Kollektion lateinamerikanischer Künstler weltweit - aber "zu wenig Laufpublikum", so der Galerist. Schlecht gehen die Geschäfte des aus der Dominikanischen Republik stammenden Mega-Händlers dennoch keineswegs: Sein Jahresumsatz wird mit 50 Millionen Dollar beziffert. "Die Jugend vom Strand weg ins Museum zu holen" - daran arbeitet das Miami Art Museum (MAM) in der Innenstadt. Mit Erfolg: Viertklässler drängen sich an einem Morgen im März um eine Eisenskulptur, sogar Anfassen ist erlaubt. Die Schulprogramme bringen jährlich mehr als 20 000 Kids aus Problembezirken zur Kunst.

2013 soll der MAM-Neubau an der Biscayne Bucht stehen, inmitten einer Kunstmeile an den Brückenübergängen zum Strandviertel South Beach - das nächste Kunst-Crescendo für die 2,5- Millionen-Metropole, das deutlich macht: Die Kultur hat Miami Vice besiegt und ist in der Partystadt nicht mehr aufzuhalten.