Drei Tage lang rollt der “Canadian“ durch Kanadas Landschaften, vorbei an Wäldern, Flüssen und Bergen. In diesem Zug ist einfach alles besonders

Einen kühnen Bogen beschreibt der schwungvoll gegossene Kaffee, verwegen und doch gekonnt sieht es aus, wie Sonny Manradyi ihn einschenkt. Zuerst führt er den Kannenhals ganz dicht an die Tasse, zieht die Kanne hoch bis auf Kopfhöhe, weiter und weiter wird der Weg für den dünnen Kaffeestrom, bis der Gießende die Bewegungen rückgängig macht und das Kaffeebehältnis wieder am Ausgangspunkt angelangt ist. Tasse gefüllt. Hundertfach tut Sonny das an diesem Tag, nie geht auch nur ein Tropfen daneben. Und das trotz erschwerter Bedingungen: Der Boden unter dem Chef-Kellner schwankt gewaltig, immer wieder macht Sonny Manradyi einen Schritt zur Seite, um plötzliches Ruckeln auszugleichen. In vom Akzent seiner Heimat Trinidad und Tobago gerüttelt-geschütteltem Englisch serviert er den Fahrgästen im Dining Car des "Canadian", den einen oder anderen Scherz zum Kaffee gleich mit.

Was so zufällig wirkt, hat System im "Canadian", dem Flaggschiff der kanadischen Bahngesellschaft Via Rail: Alles ist hier unaufdringlich besonders - das Personal besonders charmant bemüht, der Service besonders exquisit, die vorbeifliegende Landschaft besonders schön. Deshalb gehört der "Canadian", der seit 1955 auf der transkontinentalen Route zwischen Vancouver und Toronto fährt, zu dem, was gemeinhin als "legendäre Zugreise" apostrophiert ist. In diesem Fall heißt das: drei Tage für 4500 Kilometer, eine 22-köpfige Crew für rund 160 Reisende. Wer den "Canadian" nimmt, hat ein Faible fürs Gegenläufige. Die Reisetage sind entschleunigt - statt des Fahrtziels selbst interessieren hier meist die schlängelnden Schienenpfade dorthin.

Schon das Einsteigen, abends in Vancouver, in die chromblitzenden 19 Eisenbahnwaggons mit gelb-blauem Logo (und zwei Lokomotiven) bereitet darauf vor, dass es in den folgenden Tagen nicht einfach um das Zurücklegen von Entfernungen geht. Tee, Kaffee, Kekse stehen in der Bahnhofswartehalle, ein Keyboard-Unterhalter stimmt mit Country-Musik auf den langen, wilden Weg gen Osten ein. Ab hier gehen die Uhren anders. Langsamer. Wer in dieser so ganz entrückten Lounge ankommt, hat große Gepäckstücke bereits aufgegeben, nur Handgepäck ist mitzunehmen an Bord des Zuges. So komfortabel wie möglich soll die Reise sein. Als der Zug schließlich einrollt, beginnt die Wanderung. Die Fahrgäste setzen sich in Bewegung, begrüßt vom Zugpersonal, das Kabinen zeigt oder beim Einsteigen in die hohen Wagen hilft.

Dunkel ist es, als der Zug sich schließlich gemächlich losschiebt; im verglasten und höher als der übrige Zug gelegenen Panoramawagen werden Sekt und Häppchen mit Frischkäse, Leberwurst und Garnelen serviert, im Smalltalk werden Erwartungen und erste Erlebnisse ausgetauscht, bis langsam die Lichter der Großstadt ferner werden und es Zeit ist, die Abteile aufzusuchen. Liegesitze sind eine Variante, Schlafabteile eine andere, in denen die komfortablen Betten von routinierter Zugbegleiter-Hand zur Nacht heruntergeklappt werden. Doch egal, wo man sanft in den Schlaf geruckelt wird, der Sound der Reise ist überall gleich. Die Waggons knarzen leise in den Weichen und Kurven, manchmal ächzt auch das Material, klappern die Türen in den Angeln und die Spiegel in den Abteil-Badezimmern.

Über Nacht reist der Zug weit, ungläubig ist das Augenreiben beim morgendlichen Blick aus dem Fenster in die so fremde, schöne Welt der Rocky Mountains, dichte Wälder, Berge und Seen - ein menschenleeres Idyll, in dem Elche, Karibus, Bären und Adler ihren Lebensraum haben und sich mitunter auch den Zuggästen zeigen. Stunde um Stunde schiebt sich der Zug durch diese Gegenden, weit und breit keine Menschenseele, keine Zughalte, keine Straßen, dafür Flussebenen, durch die sich weite Wasser wild schlängeln. Dazu schneebedeckte Berge wie der knapp 4000 Meter hohe Mount Robson, dessen Spitze sich an nur wenigen Tagen im Jahr wolkenfrei zeigt oder jene kühn stürmenden Pyramid Falls, Wasserfälle, für die der Zug eigens sein Tempo drosselt, um Fotoapparate klicken zu lassen.

Reisen mit dem "Canadian" bedeutet sich einlassen aufs Sehen, es ist Flanieren mit dem Auge. Stunde um Stunde kann man hier an die vorbeifliegenden, immer wieder neuen und aufregenden visuellen Abenteuer dieses Landes verlieren. Viele "retired people" lockt das an, Menschen, die den Ruhestand genießen wie Susan und John White aus Pennsylvania, deren großer Traum diese Reise "eigentlich schon immer war". Im Dining Car - dort, wo Sonny den Kaffee akrobatisch gießt und Fabién abends gern zur Gitarre greift und Oasis-Songs zum Besten gibt, sinnieren die beiden bei vorzüglichem "carrot cake" über die Landschaft und Tierwelt oder darüber, welch guter Einstieg das in die Zeit des Ruhestands sei.

Aus aller Welt kommen junge wie ältere Touristen, und das findet besonders Denis gut. Denis ist "activity purser" an Bord, zuständig dafür, dass "die Reisenden alles bekommen, was sie brauchen". Manches Mal stellt er Kontakte her, wenn Menschen gleicher Nationalität im Zug sind oder wenn die einen aus einem Ort kommen, an den andere noch fahren möchten. Seit 26 Jahren macht Denis den Job nun schon und ist immer wieder begeistert vom Melting-pot-Dasein des Zuges. Menschen aus Brasilien, Japan oder Australien seien just an Bord, erzählt Denis, kurz bevor der "Canadian" nach gut dreieinhalb Tagen und zwei durchkreuzten Zeitzonen Toronto erreichen wird. "Aufregend", findet Denis mit breitem Lächeln so viel Multikulti. Irgendwie ist es ein Stück Kanada im Kleinen.

Ein Tag im "Canadian" plätschert dahin - vergeht aber doch viel schneller als es einem lieb sein kann. Die Zeit fliegt erst recht, wenn Station gemacht wird. In Jasper zum Beispiel. Knapp drei Stunden Aufenthalt gibt es hier, notfalls ein Zeitpuffer für den Fahrplan oder eben die Chance für einen Fußmarsch. Die kleine Gemeinde mit nicht einmal 5000 Einwohnern liegt im Jasper Nationalpark in gut 1000 Metern Höhe. Der Zuzug ist hier streng reguliert, Nicht-Kanadier dürfen keine Grundstücke erwerben, ursprünglich soll es hier bleiben. Jasper schmiegt sich in ein weites Tal zwischen Bergen, an deren Hängen lassen sich Teile von Kanadas beliebtesten Skigebieten erkennen. Es würde sich lohnen zu bleiben in dieser so einladenden, stillen Beschaulichkeit. Doch lädt der Zug zur Weiterfahrt.

Schließlich ist Toronto erreicht: Endhaltestelle, annähernd pünktlich. Manche machen die Fahrt einmal im Leben - manche, wie activity purser Denis, ungezählte Male. "Jede Fahrt ist anders", sagt Denis, auch nach fast drei Jahrzehnten. "Dieser Zug ist für mich immer wieder ein Abenteuer."

Quelle: viarail.ca