Moderner und aufregender möchte die Insel gern daherkommen - aber der portugiesische Außenposten im Atlantik ist und bleibt mit ihrer grünen Berglandschaft ein Ziel für Wanderer

Der Hermann gibt wieder einmal alles im Ringen um die richtige Entscheidung. Er schüttelt den Kopf, kratzt sich am Stoppelkinn, grummelt in sich hinein und brummelt aus sich heraus etwas von "Staubewölkung im Zentralmassiv" oder "Föhneffekt hier unten" und legt sich schließlich fest: Heute bleiben wir im Süden. Wir machen die Levada nova de Norte.

Dem Wetter auf Madeira, dieser launenhaften Diva, ein Schnippchen zu schlagen, ist die Lieblingsbeschäftigung des 50 Jahre alte Reiseführers aus Österreich. Und es klappt auch diesmal wieder: Als die Wanderer hochsteigen zu der betonierten Wasserleitung über Campanario, gießt eine milde Sonne wärmende Strahlen auf die Hänge, die grauen Wolkenballen haben brav am Gebirgsstock im Zentrum der Insel angedockt. Gelbe Kleeblüten säumen den Pfad, inbrünstiger Gesang dringt aus der Kirche hoch und stellt, gemischt mit dem Plätschern des Wassers und dem Gekläff selbstbewusster Hunde, einen stimmungsvollen Soundtrack zum Sonntagmorgenspaziergang.

Weit geht der Blick über die Südküste: Wie ein Puzzle aus Grün bedecken Terrassenfelder mit Bananen, Süßkartoffeln oder Zuckerrohr die Hänge. Weiße Häuser mit hellroten Ziegeldächern schmiegen sich weit verteilt dazwischen. Das Land ist zersiedelt, und das hat historische Gründe: "Früher", sagt Hermann, "als fast aller Boden noch den Großgrundbesitzern gehörte, erhielten die kleinen Pächter irgendwo auf deren Besitz einen Streifen Land, den sie bebauen und auf den sie ein Häuschen stellen konnten." Und die sind den Nachkommen geblieben. Unten, wo die engen Bergschluchten sich zum Meer hin öffnen, sind die Dörfer herausgeputzt. Je höher man kommt, desto ärmlicher werden manche Behausungen: Da wühlt ein Schwein im matschigen Verschlag, dort ist die Küche nur ein offener Unterstand - Funchal, die elegante Hauptstadt, scheint nicht nur 30 Kilometer, sondern ein paar Jahrzehnte entfernt. Und doch: Selbst am Rande des zusammengestückelten Höfchens blühen ein paar rosa Bougainvilleen, spreizen sich eitel grellorange Strelitzien oder prunkt gar in prächtigem Lila der "Stolz von Madeira", der Blütenkolben des Natternkopfs. Kann man sich auch sonst nicht viel leisten - Blumen müssen sein auf Madeira.

Die Bagger und Lkw an den Flussmündungen stehen heute still. Am 20. Februar vergangenen Jahres gingen nach 14 Tagen Regen und einsetzender Schneeschmelze vielerorts auf der Insel Muren ab und ergossen sich zähe Schlammlawinen in die Städte. "Uns hat es damals fast rausgeschwappt aus Rabacal", erinnert sich Hermann. Die Tourismuszahlen brachen ein. Doch man begann sofort, neue Wildwasserverbauungen anzulegen, und noch heute baggert man allenthalben Flüsse aus und mauert neue Befestigungswände hoch. Am Ende führt die Lavada 120 Meter weit durch einen Tunnel - mit einer Taschenlampe kein Problem. Dann stehen die Wanderer am Cabo Girao. Das Madeira-Wetter, die kapriziöse Erscheinung, lässt sich doch nicht so einfach austricksen und will es dem Hermann jetzt zeigen. Fast waagrecht peitscht der Regen herein, 580 Meter weiter unten schlägt der Atlantik wütend gegen den schroffen, schwarzen Fels. Auch hier wird gebaut: Eine Plattform mit gläsernem Boden soll den schwindelerregenden Blick steil nach unten künftig noch spektakulärer erscheinen lassen.

Dass Madeira vor allem als "Blumen- und Wanderinsel im Atlantik" wahrgenommen wird, genügt manchen Touristikern heute nicht mehr. Madeira baut Golfplätze mit vielen, vielen Löchern, es trumpft auf mit Wellnesstempeln, lässt stylische Hotels bauen und will mit Canyoning, Reiten und Tauchen von sich reden machen.

Doch trotz all dieser Bemühungen um ein neues, aufregenderes Madeira-Bild kommen die meisten Besucher nach wie vor zum Wandern. Zum einen finden sie hier die bequem zu gehenden Levadas, etwa 2100 Kilometer Wasserleitungen, die, meist von einem Pfad begleitet, schon ab Mitte des 15. Jahrhunderts angelegt wurden und die Insel wie ein Netz überziehen. Viele sind wenig begangen, andere gut ausgeschildert und wahre Besuchermagneten. Auf der Hochebene Paúl da Serra führt die Route zum Cascata do Risco, einem 70 Meter hohen Wasserfall, durch alten Lorbeerwald, wie er einst die ganze Insel bedeckte. Wie zottige Bärte schaukelt Islandmoos im Wind, dunkle Äste drehen und winden sich ineinander zu einem grünen Baldachin. Die Besenheide ragt drei Meter hoch, Heidelbeeren werden bis zu zwei Meter groß, und auch die Gänsediestel ist eine XXL-Pflanze: Löwenzahn in Übergröße. Lorbeer gibt es gleich in drei verschiedenen Ausführungen: Als Madeira-, Stink- und Kanarischer Lorbeer. Jahrhundertelang wurden daraus die Spieße geschnitzt, an denen in den Restaurants gegrilltes Rindfleisch von der Decke hängt. Das ist aus Naturschutzgründen mittlerweile verboten: Heute sind Metalldegen die Regel.

Aber es gibt auf Madeira durchaus auch Wanderrouten, die Trittsicherheit und Kondition erfordern. Wie ein überdimensionaler Backenzahn thront der Adlerfelsen am Rand des Atlantik. Durch einen Urwald aus Farn, Stechginster, Myrthe und Brombeeren zieht sich ein Pfad nach oben. Manche Felswände sind übersäht von den grünen Rosetten der Drüsenäonien, Mimosenbäume tragen erste gelbe Blüten. Es hat ordentlich gewettert in den letzten Tagen, der eine oder andere Eukalyptusbaum, mit denen die Insel aufgeforstet wurde, liegt zersplittert zwischen hohen Strandkiefern, die mit ihren langen, langen Nadeln ganz oben Tröpfchen aus den Wolken melken. 500 Meter geht es hinauf, 500 Meter steil wieder hinunter - da bleibt genügend Zeit, gleich auf dem Nordküstenweg weiterzugehen.

Der führt ganz wunderbar etwa auf halber Höhe an der Steilküste entlang. Immer wieder bietet er grandiose Ausblicke, hinunter zur weißen Brandung und hinüber zur Nachbarinsel Porto Santo, wo Christoph Columbus sich tummelte, ehe er daran ging, die Welt zu verändern wie niemand zuvor. Roter Tuff wechselt mit schwarzem Basalt, dazwischen decken hellgraue Flechten den Stein. Sehr pittoresk - aber Hermanns Kollege André war es trotzdem nicht farbig genug. "Unser Weg soll schöner werden", sagte sich der Österreicher, der seit 20 Jahren auf der Insel lebt. Und setzte begeisterte Gäste als Arbeitskolonne ein: Jeder bekam eine Kelle und paar Zwiebeln oder Wurzelstöcke in den Rucksack, die André vorher anderswo ausgegraben hatte. Dann pflanzten sie auf Felsbändern und kleinen Vorsprüngen Fresien, Agapanthus, Amaryllis und Fleißige Lieschen.