Es gibt Inder, die mieten zur Hochzeit ihrer Tochter das Schloss von Versailles, um diejenigen zu übertrumpfen, die ihrer Tochter einen Maharadscha-Palast zur Mitgift gegeben haben. Und es gibt Inder, die wissen nicht, ob sie heute und morgen etwas zu essen haben. Von diesen sieht man, dem Boom, der neuen, rasch wachsenden Mittelklasse und allen Superreichen zum Trotz, immer noch viel zu viele. Millionen in den Megastädten sind zum Betteln verdammt. Ein Anblick, mit dem nicht alle Touristen klarkommen. Manche bleiben weg, weil sie sich dieser Realität nicht aussetzen mögen. Ihnen entgeht, mit welcher Lust und List sich einige der Ärmsten ihr Brot - und zuweilen ein extra Trinkgeld - verdienen. Ram zum Beispiel, Schuhputzer in Delhi, etwa zehn Jahre alt.

Eine Viertelstunde war er neben mir hergelaufen, mit seinem Kästchen unterm Arm. Ich wollte nicht den feinen Herrn spielen, der sich auf der Straße die Schuhe wienern lässt - außerdem hatte ich Sandalen an, da gab es nichts zu putzen. Also versuchte ich ihn mit einem Lächeln loszuwerden. Aber da hatte ich Ram unterschätzt. Wir schlenderten weiter nebeneinander, lächelten, ich etwas gequält, er sanft und bittend. Ich mochte ihm irgendwann nicht mehr in die Augen schauen. Einen Moment nur, einen winzigen Moment, schaute ich bewusst geradeaus. Und bekam nicht mit, wie Ram in seine Trickkiste gegriffen haben musste, um zu seinem Auftrag zu kommen. Aufgeregt deutete er nach unten: "Look, Sir, your shoes, look, look ..." Und da sah ich es: Aus hellen Sandalen waren braune geworden, kackbraune! Ram hatte in seinem Schuhputzer-Set nämlich nicht nur Lappen und Cremes verstaut, sondern auch ein Töpfchen mit flüssigem Kuhmist. Dieser Vorrat ist in Indien leicht aufzufüllen, wo sich an fast allen Straßen die heiligen Tiere aufhalten.

Ich war verblüfft, kurz verärgert, dann schwer beeindruckt: So viel Kreativität musste belohnt werden. Und vor allem mussten die Schuhe wieder sauber werden. Das nennt man eine Win-win-Situation: Ram ist glücklich weitergezogen, ich hatte blitzeblanke Sandalen - und wusste plötzlich, dass man aus Sch... Geld machen kann.