Coimbra liegt zu weit ab von den typischen Touristenzielen - vielleicht hat darum die Globalisierung noch nicht stattgefunden.

Es ist nur ein Augenblick, zwanzig Sekunden lang oder vielleicht auch drei Minuten, dann ist alles vorbei bis zum nächsten Abend. Wer gerade in der Stadt unterwegs ist, verpasst ihn wahrscheinlich, besagten Augenblick, zu dick sind die Mauern, zu schmal die Gassen, zu eng und verschachtelt stapeln sich die Gebäude den Hügel hinauf. Von der anderen Seite der Brücke aber, vom westlichen Ufer des Mondego - von dort kann man diesen Moment nicht übersehen. Jogger unterbrechen ihr Training, Gassigeher ihr Stöckchenwerfen, jeder bleibt stehen, jeder hält inne, jeder schaut hinüber zur Stadt, und es soll schon Autofahrer gegeben haben, die auf der Rua da Guarda Inglesa derart heftig auf die Bremse traten, dass ihnen der Hintermann in den Kofferraum gerauscht ist. In diesem Moment nämlich beginnt die Stadt zu leuchten, zuerst in den oberen Straßen, dann allmählich auch weiter unten - als werde flüssiges Gold über Mauern und Türme ausgeschüttet, so sieht das aus. Für kurze Zeit scheint alles zu glühen, als käme das Leuchten von innen heraus. Dann verblasst das Gold, und Coimbra liegt in der Dämmerung wie jede andere Stadt Portugals.

Coimbra? Coimbra. Kennt niemand, oder? Geht ja einigen portugiesischen Städten so: Wer fährt schon nach Braga, oder Evora, oder Guarda? Für die meisten Reisenden besteht Portugal ja nur aus der Algarve, und vielleicht noch aus einem Abstecher nach Lissabon, dann fliegt man von Faro zurück. Coimbra liegt den meisten zu abseits für einen Besuch: im Landesinnern, hundert Kilometer südöstlich von Porto, fünfzig entfernt von den Stränden des Atlantiks. Man muss schon nach Coimbra wollen, um nach Coimbra zu kommen. Zufällig schaut man hier nicht vorbei.

Das war nicht immer so: Es gab Zeiten, in denen die europäische Welt genau hierhin schaute. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte der portugiesische König Dom Dinis die Universität aus dem weltoffen gelegenen Lissabon ins verschlossene Landesinnere verlegt - der Herrscher glaubte, dass die abgeschiedene Lage und die Natur den Studenten guttun würden und hieß wohl nicht ganz zu Unrecht mit Beinamen "der Weise". So wurde aus der ehemaligen Römersiedlung am Ufer des Mondego eine cidade dos estudantes, eine Stadt der Lehre und des Studiums. Mit einer Universität, die in den kommenden Jahrhunderten mit dem werbewirksamen Logo "Älteste Uni Portugals" hausierte. Und sich auch nicht scheute, sich als "Cambridge des Südens" zu bezeichnen.

Es ist diese Uni, die Coimbra bis heute prägt. Zum einen, weil ihre Gebäude eine Stadt oberhalb der Stadt bilden, Türme und Kapellen, ein wunderhübscher botanischer Garten und mit der Biblioteca Joanina eine der prächtigsten Bibliotheken der Iberischen Halbinsel, alles zusammen eine architektonische Krone an genau jener Stelle, an der andere Siedlungen Portugals von einer Burg oder einer Festung bewacht werden. Zum anderen, weil 20 000 Studenten in einer 100 000-Einwohner-Stadt natürlich einen ziemlichen Einfluss auf das Leben haben. In Coimbra gibt es mehr Szene-Kneipen, Secondhand-Läden und Avantgardebühnen als in anderen Städten Portugals. Und - am Hang hinauf zur Cidade Universitaria - ziemlich viele alte Gebäude, die von studentischen WGs in Beschlag genommen worden sind. Aus ihren Fenstern hängen Flaggen mit Friedens- und Attac-Motiven. Auch das sieht man sonst nicht so oft.

Diese steilen Wohnlagen sind übrigens der beste Ort, um sich der Stadt zu nähern, die sich von außen so majestätisch gibt. Zu Blumentöpfen veredelte Olivenölkanister stehen anarchisch ungeordnet auf der Gasse, zwischen den Pflastersteinen sprießt Gras, aus geöffneten Küchenfenstern kommt der Duft von Kartoffeln und Sardinen, die Katzen unter den Fenstern maunzen hungrig. Vor einiger Zeit hat die Stadtverwaltung damit begonnen, die bröselnde Bausubstanz in diesen Straßenzügen zu restaurieren, aber jetzt schaut es so aus, als sei das Geld ausgegangen - überall Gerüste, aber keine Arbeiter, überall aufgerissene Straßen, aber niemand, der mit dem Verlegen der Pflastersteine weitermacht. Stattdessen Verkaufschilder in den Fenstern: Hier, in den alten Gassen von Coimbra, ist die Eurokrise nicht nur eine Schlagzeile in den Nachrichten geblieben. Irgendwer hat Graffiti auf Hauswände gesprüht, eins davon in Rot und Grün, den Nationalfarben: "Esst ihr weiter euer Fastfood - und lasst uns unseren Fado!"

Ob sich Coimbra den Gleichmachern der Globalisierung geschickt verweigert hat oder von ihnen einfach übersehen wurde, spielt keine Rolle: Man kann hier jedenfalls stundenlang umherstreifen, ohne an jenen Kettenläden oder Franchise-Restaurants vorbei zu kommen, die die meisten Innenstädte Europas mittlerweile so beliebig und austauschbar gemacht haben. Stattdessen entdeckt man kleine Cafés und winzige Pastelerias, in denen die Großmütter gerade mit dem noch heißen Blech aus der Backstube kommen. Läden, in denen Platz ist für zwei Regale mit Schmuck und die Werkbank der Kunstschmiedin, schon der zweite Kunde aber in der Tür stehen muss. Selbst auf der Rua Visconde da Luz, der Promenade, sind die meisten Geschäfte im Familienbesitz, statt Coffee-to-go-Filialen gibt es Kaffeehäuser wie das großartige "Café Santa Cruz", das in einem alten Kirchengewölbe residiert. Und wenn sich halb Coimbra nach Sonnenuntergang auf den kleinen Plätzen auf einen Plausch trifft, dann wird Wein aus der Region getrunken.

Sowieso sind das die schönsten Stunden des Tages, wenn die Wärme aus den Mauern entweicht wie Luft aus einem Ballon, wenn das letzte Licht des Tages sich aus Leibeskräften festklammert und partout noch nicht verschwinden will. Es sind diese Stunden, in denen eine zeitlose, außerweltliche Atmosphäre allmählich aus den Mauern hinaus in die Stadt zu strömen scheint. In denen Coimbra sich verwandelt, nicht mehr richtig in der Gegenwart festhalten kann, langsam in den Jahrhunderten zurückrutscht. Dann ist es, als schere sich die Zeit hier einen Teufel um lineare Vorschriften. Als habe sie kleine Paralleluniversen eröffnet, aus denen die Epochen hinaus und ineinander sickern.

Das ist auch die Zeit der Fadosänger, schließlich sind wir in Portugal. Spätestens um acht ist in den Cafés, Klubs und Restaurants, die Livemusik bieten, kein Platz mehr zu bekommen, auch wenn Konzerte selten vor zehn oder elf am Abend beginnen. Sobald die Musiker die Bühne betreten, wird es still. Fado-Balladen sind musikalische Trostpflaster für die Kratzer des Alltags, sie berühren 20-jährige Studenten ebenso wie 80-jährige Rentner. Viele, die nach einem Lied begeistert applaudieren, haben Tränen in den Augen.

In Coimbra wird übrigens ein eigener Fado-Stil gepflegt, der Fado de Coimbra. Ursprünglich war das die Musik der Studenten. Sie handelte von Liebschaften, der Sehnsucht nach besseren Zeiten und der Schönheit der Stadt. Weil das Themen sind, mit denen jeder etwas anfangen kann, handelt der moderne Fado de Coimbra von Liebschaften, der Sehnsucht nach besseren Zeiten und der Schönheit der Stadt. Und manchmal geht es in den Liedern auch um jenen Moment, in dem es scheint, als werde flüssiges Gold über Mauern und Türme ausgeschüttet. In dem alles zu glühen scheint. Bis das Gold verblasst. Und das Lied verhallt.

Video: Impressionen von Coimbra