Vom Saastal im Schweizer Kanton Wallis stapfen geführte Gruppen auf 2400 Meter

"Ein Klacks", sagt Wanderleiter André Zurbriggen. Nur einen Steinwurf läge das Vernissage Berghaus Plattjen entfernt. Eine Hütte, die nichts mit genügsamer Kost und miefigen Matratzen gemein haben soll, sondern sich einreiht in die Riege lifestyliger Höhenherbergen mit viel Komfort. Doch auch Luxus will verdient sein, und so absolvieren wir das Hütten-Hopping auf Schneeschuhen, statt die Seilbahn zu besteigen, die ein schnelleres Gipfelerlebnis beschert hätte. Früher, erzählt André, seien die Bauern von Alm zu Alm, von Stall zu Stall, auf Schneeschuhen gestapft. Wie mit Leder bespannte Teppichklopfer sahen sie aus, viel schöner als die funktionellen Plastikteile, die wir heute an den Füßen tragen und die nur in ihrer Form an die ursprünglichen Schneeschuhe erinnern.

Am Nachmittag waren wir in Saas-Fee aufgebrochen, inzwischen ist es stockdunkel, nur das Licht vom Berghaus blinkt einladend in der Finsternis. Seit Stunden sind wir unterwegs, doch der Aufstieg will kein Ende nehmen. Zu hoch lag im ersten Teilstück der Schnee im Wald, zu scharf bläst inzwischen ein eisiger Wind über die Felsen oberhalb der Baumgrenze, zu ungewohnt ist das Klettern auf Teppichklopfern für die Besucher aus dem Flachland. Einer aus der Gruppe hat bereits die Segel gestrichen und ist ins Tal zurückmarschiert.

Die ermattete Resttruppe kämpft, keucht und rutscht bei jedem gewonnenen Meter gleich wieder einen halben zurück. André versucht zu motivieren: "Nicht zu weite Serpentinen ziehen. Das kostet Zeit und Kraft. Einfach geradeaus nach oben steigen." Von 1800 auf gut 2400 Meter. Rund 600 Höhenmeter immerhin. Eine Grundkondition sei erforderlich, hatte in der Routenbeschreibung gestanden. Mit jedem schweren Tapp-tapp forme ich die Fußspuren eines Yetis. Ich sehe nichts mehr, spüre nur noch den Schnee, den der Sturm wie Nadeln ins Gesicht peitscht. Nie habe ich verstanden, warum Menschen sich aus Erschöpfung einfach in den Schnee legen und nicht mehr aufstehen. Jetzt würde ich es am liebsten selber tun. "Nicht aufgeben!", brüllt André. Die längsten 50 Meter meines Lebens haben begonnen. Längst ist es mir egal, ob wir uns zu einer Edelhütte oder einem Erdloch schleppen.

Plötzlich steht eine Lichtgestalt vor uns. Umrahmt von rötlich-warmem Schein, mit einem überirdischen Lächeln auf dem Gesicht. Eine Halluzination? Wird sie jetzt - wie in dem Werbespot mit Petrus und George Clooney - Kaffeepads von uns fordern? Der Engel lädt uns im Gegenteil ein in die Wärme, in die Geborgenheit. Stellt sich vor. Isa Stebler heißt sie und ist Hüttenwart hier oben in der Einsamkeit. Den ganzen Winter lang.

Wie benommen hocken wir am gusseisernen Bullerofen, jeder mit Heißgetränk, tauen langsam auf und beginnen allmählich, die Umgebung zu sondieren. Rustikaler Berghauscharme auf 2418 Meter Höhe. Mit kuscheligen Schaffellen auf den Stühlen, aufgeschichteten Holzscheiten, Perlschnur-Kronleuchtern - saugemütlich ist es hier. Später tischt Isa ein Gourmetdinner auf, das Chefkoch Andreas Otte im "Hotel Ferienart" in Saas-Fee vorbereitet hat. Mit Ingwer-Möhren-Suppe, Crevetten und Jakobsmuscheln. Erst 2009 wurde das Berghaus als ältestes im ganzen Saas-Tal vom Hotel gepachtet. 107 Jahre alt ist es und hat bereits im November 2010 von "Best of Swiss Gastro", die jährlich die innovativsten Gastrobetriebe der Schweiz auszeichnen, den dritten Platz belegt.

"Unsere Hütte hat übrigens das WC mit der schönsten Aussicht in den Alpen", vermeldet Isa nach dem Dessert. In der Tat sieht man vom Fenster die Lichter leuchten tief unten im Tal und vom Himmel lupenreine Sterne. "Hotel unter 1000 Sternen", lautet deshalb auch ein Werbeslogan der ungewöhnlichen Hütte. Zeit, um ein wenig in den neuen Hüttenbüchern zu blättern. Auch eine Jenny hat sich verewigt: "Wir hörten Murmeltiere pfeifen. Das tolle Essen hat sogar meine 12-jährige Schwester und mich überzeugt!"

Der nächste Morgen beginnt für Hüttenwart Isa noch zeitiger als für ihre Gäste. Über eine Rampe muss sie an der Seilbahn die Wassergondel anhalten und öffnen, damit das Wasser durch eine unterirdische, geheizte Leitung ins Berghaus fließt. Proviant liegt ebenfalls bei, größere Lieferungen entnimmt sie samt Wagen einer weiteren Gondel.

Täschhorn, Dom, Nadelhorn und Lenzspitze sind jetzt ganz in Rosa getaucht. Vergessen sind die Strapazen des Abends. Jetzt nur noch ein kurzer Aufstieg durch den knirschenden Morgenschnee zur Bergstation Plattjen und dann ganz entspannt mit der Seilbahn zurück ins Dorf geschwebt.

Wie eine Muschel rahmen 18 Viertausender Saas-Fee und seine Nachbargemeinden Saas-Grund, Saas-Almagell und Saas-Balen ein. Der Dom gilt mit 4545 m als höchster Berg der Schweiz, der ganz auf Schweizer Boden steht. Die Dufourspitze der Monte-Rosa-Gruppe ragt mit 4634 m zwar höher auf, ist aber ein Grenzberg zu Italien.

Saas-Fee ist autofrei und hat trotz Bekanntheit als attraktiver Wintersportort seinen "urchigen" Dorfcharakter bewahren können. Alte Walliser Holzhäuser und Stadeln, früher Speicher, werden heute für Weinverkostungen genutzt. Auch Carl Zuckmayer wusste um ihren Charme: "Saas-Fee, auch im Zeitalter der Seilbahnen und Grillrooms, hat immer noch seine eigene Magie, sie nistet in seinen alten Ecken und Stadeln ..."

Ein Walliserhaus bildet auch den Rahmen für das Museum mit dem original eingerichteten Arbeitszimmer von Carl Zuckmayer. Saas-Fee hatte den deutschen Schriftsteller bereits 1938 in seinen Bann gezogen. 1957 bezog er mit seiner Frau Alice das Haus Vogelweid, in dem er Stimmen zu hören glaubte: "Ich höre sie sprechen, in den Winternächten, wenn das Holz knackt und seufzt, ruft und flüstert. Es sind die Stimmen, die weitersprechen, wenn die unseren verstummt sind. ... Sie erfüllen mich mit Ruhe und Vertrauen." In Saas-Fee schrieb Zuckmayer auch sein Lebenswerk "Als wär's ein Stück von mir."

Drei Superlative zeichnen "die Perle der Alpen", wie sich Saas-Fee selbst bezeichnet, aus: Das höchste Drehrestaurant der Welt auf 3500 m, der größte Eispavillon und die welthöchste U-Bahn. Von Saas-Fee aus schweben die Luftseilbahn Alpin Express und die Panorama-Felskinnbahn bis an die Gletscherzungen des Felskinn. Von dort fährt die Metro Alpin zum Mittelallalin.

Vor den Panorama-Scheiben zieht während einstündiger Umdrehzeit der Gebirgskranz der Saas-Feer Drei- und Viertausender vorbei: Lenzspitze, Dom, Täschhorn, Allalinhorn, Alphubel, Rimpfischhorn, Strahlhorn. Es wird feine einheimische Küche serviert. Ein Schild weist darauf hin, dass es hier etwa ein Drittel weniger Sauerstoff gibt: "Achtung, wir befinden uns hochalpin, langsamer bewegen!" Seit 25 Jahren ist Shefti Useini aus Mazedonien Pächter des Restaurants: "Man erlebt hier oben verschiedene Szenarien. Es ist schon vorgekommen, dass der Berg innerhalb einer halben Stunde geräumt werden musste. Dann geht alles rucki-zucki."

Weiter unten, im 5500 m3 großen Eispavillon, erklärt eine Ausstellung die Mysterien eines Gletschers. Eiskorridore, ein Iglu und Rutschbahnen begeistern die Kinder. In der Gletscherkapelle geben sich Heiratswillige das Jawort. "Ewiges Glück im ewigen Eis", glaubt Shefti Useini.

Abends werden in der Älpli-Hütte am Waldrand von Saas-Fee bei Käsefondue und Akkordeon sämtliche Schweizer Klischees von Hüttenzauber erfüllt. Junger Wein und alter Ofen heizen mächtig ein. Draußen blinken wieder tausend Sterne. Einer davon ist das Licht vom Berghaus Plattjen hoch über uns. Es scheint zum Greifen nah.

Video: Saas Fee im Winter