Tallinn, Europas Kulturhauptstadt 2011, hat sich einen mittelalterlichen Charme bewahrt.

Jener Augenblick, in dem es nicht mehr anders ging, in dem es einfach passieren musste: Der ereignete sich gleich am ersten Abend.

Das "Olde Hansa" ist eines von Tallinns "Muss man gesehen haben"-Restaurants, eine Art Hanse-Themenpark, mit Bänkelsängern auf der Empore und Wildschweinbraten auf den Tellern. Die Bedienungen tragen mittelalterliche Kleidung und beantworten Fragen in gedrechseltem Shakespeare-Englisch, wobei sie jedes Mal das Gesicht verziehen, um nicht losprusten zu müssen. "Bei Wohlgefallen möge der edle Herr gern reichlich Dukaten für die Bediensteten auf dem Tische liegen lassen", erklärte eine von ihnen, als sie die Rechnung brachte. Sie machte einen kleinen Knicks.

Im selben Augenblick vibrierte ihre geschnürte Bluse, und hinter dem Stoff tackerte ein elektronischer Beat. Sie löste die Schnur und griff hinein, aber das Telefon schien sich irgendwo verhakt zu haben, tockerte und tackerte weiter, "Leave House" von Caribou, bis sie es endlich draußen und ausgestellt hatte. Da stand sie nun, schaute das Gerät mit strenger Miene und fragte laut: "Was stört es uns mit läst'gem Schalmeienton?" Und das war er, der Augenblick, in dem man sich verlieben musste. In dieses Lächeln. In diese Grübchen. Und in dieses Tallinn am besten gleich mit.

Als die Stadtverwaltung vor Jahren ein Motto für Europas Kulturhauptstadt 2011 suchte, stand "Medieval and Wired" ziemlich hoch im Kurs: "mittelalterlich und vernetzt" gefiel nicht nur vielen Einwohnern, sondern trifft auch das ganz gut, was Besuchern der estnischen Hauptstadt oft als Erstes auffällt. Einerseits hat sich Tallinn eine geballte Mittelalterlichkeit bewahrt. Es gibt in Europa nur sehr wenige Städte, die sich architektonisch so unbeschadet durch die Zeitläufte mogeln konnten wie das ehemalige Reval - die Stadt sieht aus wie der detailgetreue Nachbau einer Hansestadt (beziehungsweise - um beim angedachten Motto zu bleiben - wie die Vorlage für eines jener Computerspiele, in denen man seinen Kreuzritter durch die Gassen einer labyrinthischen Festungsanlage des 11. Jahrhunderts steuern kann).

Andererseits aber ist Tallinn mittlerweile längst in der Gegenwart angekommen, und die ist digital. Die Parkgebühren für den Mietwagen kann man hier schon seit Jahren per Handy bezahlen. Skype-Telefonate nach Hause sind dank stadtweitem WLAN-Netz von jeder Parkbank aus möglich. Wahrscheinlich ist Tallinn auch die einzige Stadt der Welt, in der mittelalterlich gekleidete junge Menschen in ihrer Restaurantpause auf dem Rasen im Park sitzen und auf iPads ihr Facebook-Profil aktualisieren.

Früher, als Tallinn noch Reval hieß, gab es innerhalb der Stadtmauer zwei Siedlungen: In der Unterstadt lebten die Kaufleute der Hanse, auf dem Domberg residierten Patrizier und Klerus. Während die herrschaftlichen Gebäude oben auf dem Hügel die Sowjetzeit relativ unbeschadet überstanden haben, war ein Großteil der mittelalterlichen Bausubstanz der Unterstadt reichlich ramponiert, als sich Estland 1991 von der Sowjetunion lossagte. Es ist dann aber ziemlich schnell ziemlich viel Geld in die Renovierung der alten Häuser geflossen. Und als die Wirtschaftskrise vor zwei Jahren auch Estland erwischte, waren die allermeisten Straßenzüge bereits sorgsam restauriert. Wenn man durch diese kopfsteingepflasterten Gassen schlendert, am frühen Morgen am besten, bevor die Passagiere der Kreuzfahrtschiffe ihre Frühstücksbüfetts verlassen haben und die britischen Billigflugtouristen wach sind, dann ist Tallinn wie ein Open-Air-Museum, in dem man untergebracht hat, was einst zwischen Brügge und Nowgorod architektonisch en vogue war: Sankt Petersburger Pomp, Bergener Minimalismus, Lübecker Heimeligkeit.

Hat man im Gewirr der Gassen den Überblick verloren, hilft ein Abstecher hinauf auf den Turm des gotischen Rathauses: Von hier, heißt es, könne man Tallinn in die Seele schauen. Dann wollen wir mal! Das da drüben, die glitzernde Weite: Das ist das Meer. An ihm ist Tallinn groß geworden, auf und von und mit ihm hat es gelebt, bis die Russen die Küste zum Sperrgebiet erklärten. Die modernen Blöcke auf der anderen Seite: Das sind die neuen Viertel, die Fußgängerzonen, die Einkaufsstraßen. Näher dran und um den Turm herum liegt das alte Tallinn, das nur aus Dächern zu bestehen scheint, aus Dächern und Kirchtürmen, die strategisch verteilt in die Höhe ragen, wie mittelalterliche Wächter, die die Stadt beschützen wollen. Am eindrucksvollsten ist der Turm der Olaikirche - leider waren seine 124 Meter Höhe im Laufe der Zeit auch für Blitze attraktiv; acht Einschläge sind verbürgt, mindestens dreimal in ihrer Geschichte brannte die Kirche ab.

Manchmal kann man hier oben zur grandiosen Aussicht Musik hören. Die einsame Flöte eines Straßenmusikers beispielsweise, irgendwo in den Straßen. Ein Cello oder eine Chorprobe, lateinische Stimmen, die der Wind hinauf in die Höhe trägt.

Musik ist überall in Tallinn. Wer zum tönenden Protest 300 000 Menschen auf die Straßen bekommt wie die Esten 1991 während ihrer Singenden Revolution gegen die russischen Besatzer, muss ein musikalisches Völkchen sein. Die Chöre der Hauptstadt gehören zu den berühmtesten Europas, Stimmen, die sich aufeinander schichten bis hinauf in den Himmel über Tallinn. Wer das Glück hat, ein Werk von Paavo Järvi hören zu dürfen oder eines von Arvo Pärt, der ahnt, dass manche Menschen das tatsächlich können: ein kleines Eckchen Ewigkeit auf die Erde holen.

Die Musik in der Stadt ist von den Landschaften außerhalb der Stadt inspiriert worden, von der Weite ihrer Horizonte, der Klarheit der Luft, dem Leuchten der Dinge. Wenn man den Gürtel aus Industrieanlagen und Plattenbausiedlungen rund um Tallinn hinter sich gelassen hat, öffnet sich eine Welt der Felder und Moore, der flachen Ebenen und rauen Küsten. Es sind die Landschaften außerhalb der Stadtmauern, die das Tallinn innerhalb geprägt haben. Auch andere haben sich hier Anregungen geholt, die Möbeldesigner zum Beispiel, deren Stücke so simpel sind, ganz schlicht, ganz sparsam, als ob Zen eine baltische Philosophierichtung wäre.

Tallinns Architekten sind ebenfalls so gepolt und bauen Hotels für die Titelseiten von Designzeitschriften. Die Modedesigner schütteln Kollektionen in Naturtönen aus dem Ärmel, die trotz aller Erdverbundenheit schwebend daherkommen. Auch das fällt auf in Tallinn: Wie selbstverständlich-nebensächlich die Schwere des mittelalterlichen Zentrums erleichtert wird. Durch eine moderne, gelbe Tür in einem 500 Jahre alten Haus. Eine Galerie für zeitgenössische Fotografie in einem steinalten Wachturm. Eine minimalistische Bar in einem gotischen Gewölbe.

Doch, diese Stadt ist etwas Besonderes. Sie fühlt sich nicht europäisch an und auch nicht skandinavisch: Tallinn ist eben Tallinn. Für 2011 hat sich die Hauptstadt viel vorgenommen: Konzerte, Ausstellungen, Installationen. Und die See möchte man zurückerobern, endlich, mit Regatten und Schwimmwettbewerben und Festivals wie den "Tallinn Maritime Days". Schließlich ist als Slogan des Kulturhauptstadtjahres nicht "Mittelalterlich und vernetzt" gewählt worden - das Motto lautet "Geschichten von der Meeresküste".