Hamburg. Neulich hat mir Charles den Besuch eines Gottesdienstes angeraten. Charles arbeitet an der Rezeption des Hotels in New York, in dem ich absteige, wenn ich dort arbeite (das Verb ist in diesem Fall mit Bedacht gewählt). Er ist ein gottesfürchtiger Mann, der die Bibel studiert, wann immer man ins Hotel kommt. Offensichtlich hat er mitbekommen, dass ich wiederum immer abgehetzt wirke. Du findest keine Ruhe, hat er gesagt. Such deinen Frieden! Geh in die Times Square Church!

Und da war ich dann auch. Die Kirche ist im ehemaligen Mark-Hellinger-Theater untergebracht und sieht aus wie ein, nun ja - Theater. In der Broschüre steht, dass hier früher leicht bekleidete Vaudeville Girls tanzten, und dass später 2717-mal "My Fair Lady" gegeben wurde. Heute aber residiert der Herr unter den roten Samtbalustraden; die Gottesdienste "sollen den Bedrückten und Verzweifelten des Theater Districts Trost und Frieden spenden" (auch aus der Broschüre). Was man gerne glaubt, wenn man vor Gottesdienstbeginn ankommt und die Bedrückten und Verzweifelten in heller Vorfreude erlebt. Alles strahlt sich an. Alles liegt sich in den Armen. Ich lasse mich von einer Platzanweiserin zu einem Stuhl in der Theatermitte bringen. Sie nennt mich "Sweetheart" und "my Darling".

Dann geht der Vorhang hoch, und dahinter stehen etwa 80 weiß bekittelte Gospelsänger. Die Band startet ein Potpourri, bei dem sich der Keyboarder durch feine Ragtime-Einsprengsel auszeichnet und der Posaunist abgeht, als sei er Albert Mangelsdorffs Reinkarnation. Der Chor wird angeführt von einer etwa 100 Kilo schweren Vorsängerin, die ekstatisch trampelt, wenn sie einen Refrain erreicht. Die Stimmung erinnert an die dritte Zugabe eines Stevie-Wonder-Konzerts.

Pastor Carter Conlon kann die Menge kaum beruhigen. Es wird gejuchzt, aufgesprungen und Wissenswertes wie "Der Herr ist über mich gekommen!" oder "Ich sehe das Licht, das Licht! Das Li-icht!" mitgeteilt. Der Mann rechts neben mir beginnt sich hin und her zu wiegen und halblaut mit sich selbst zu sprechen. Die Frau links hat meine Hand ergriffen und versucht, sie mit ihrer nach oben zu recken. Pastor Conlon möchte wissen, ob denn jemand neu sei in diesem Hause. Innerhalb weniger Sekunden werde ich etwa sieben Zentimeter kleiner, wachse gewissermaßen in meinen Sitz hinein. Die Frau links drückt meine Hand ganz fest. Der Mann rechts hört mit seinem Geschaukel und Gemurmel auf und schaut mich wissend an. Weiter vorne hebt eine Besucherin den Arm, worauf alles jubelt und klatscht und "Halleluja!" ruft und die Ärmste unter Posaunenklängen auf die Bühne zerrt, wo sie anschließend Auskunft über Leib und Leben und ihr Erweckungserlebnis geben muss.

Der Mann neben mir fragt, ob nicht auch ich zum ersten Mal hier sei, und ich stehe auf, und ich gehe ganz schnell hinaus, über den Broadway, die 51st Street hinunter und dann an der Third Avenue nach rechts und immer weiter, bis zu meinem Hotel. Charles sitzt an der Rezeption; er liest in der Bibel und sieht mich fragend an. Ich gehe an ihm vorbei, gehe in den Aufzug, in mein Zimmer, und falle erschöpft auf mein Bett und schlafe elf Stunden. Man muss ja auch mal Ruhe finden.

+++ Nink zum Nachlesen +++