Mit dem Expeditionsschiff “Via Australis“ entlang der Küste Patagonien/Feuerland auf der Magellanstraße. Das sind fünf Tage großes Naturkino

Es ist, als schaute man durch einen grünlichen Flaschenboden. Mal scheint es wie eine Masse aus Minzbonbons, mal wie aufeinander getürmte Glasbausteine, Glasscherben oder ein Strauß Laserstrahlen am Himmel: Eis hat sich über das Ende der Welt gelegt. Milchigweißes, klar durchscheinendes, türkisblaues, jadegrünes, in allen kalten Farben changierendes Eis. Es fließt herab vom Rücken der Anden, türmt sich auf zu gleißenden, hochhaushohen Getümen und stürzt sich ins Meer, um sich dort in bizarre Inseln zu verwandeln, die langsam gen Südpol treiben.

Weit hat es das Eis nicht: Zwischen der Südspitze Feuerlands, dem leeren, unwirtlichen Landstrich, der gleichermaßen zu Chile wie zu Argentinien gehört, und der Antarktis liegen gerade mal 954 Kilometer. Und 586 Seemeilen (1085 km) lang ist die Route, welche die "Via Australis" zurücklegt auf ihrer Fahrt von Punta Arenas bis Ushuaia entlang des Südamerikanischen Kontinents: ein Expeditionsschiff, das die Südküste Chiles auf der Magellanstraße begleitet, mal tiefer in die Fjordlandschaft eindringt, sich im Labyrinth der gletscherbedeckten Felsinseln verliert, mal gebührend Abstand wahrt.

Kalte Eisgiganten werden sich auf dieser fünftägigen Reise vor uns aufbauen und tosend ins Wasser hinab kalben, brüllende See-Elefanten sich in den Weg stellen, Delfine vor dem Schiffsbug "Fang mich" spielen, Schwärme von nie gesehenen Vögeln kreischend über unsere Köpfe kreisen. Und dann, ganz plötzlich, als hätte jemand den Schalter umgelegt, wird sich eine seltsame Stille einstellen, die uns komplett verschluckt. Schweigend werden wir in den Zodiacs sitzen und uns verwundert anschauen. Was haben wir da gerade erlebt? Sind wir noch in dieser Welt? Oder hat uns jemand in eine andere gebeamt?

Erst am Abend bekommen die Gesichter wieder Farbe. Es gibt dunklen, schweren Rotwein an großen runden Tischen im Bauch des Schiffs und gute Sachen aus den Gärten und von den Weiden Chiles. Menschen sitzen bei uns, die so viel zu erzählen haben, von ihren letzten Abenteuern und dem heutigen, das wir geteilt haben. Sie kommen von ganz nah und ganz fern. Aus Venezuela und Frankreich, der Schweiz und Bolivien. Vorhin in den Zodiacs, diesen kraftvoll schwarzen Schlauchbooten, die zu Wasser gelassen werden, wenn wieder ein Gletscher sich beim Kalben zeigen will, eine Kolonie von Pinguinen uns ganz nah an sich heranlässt, ein einsamer Wald seine verborgenen Schätze mit uns teilen will - da haben wir sie nicht erkannt. Kalt und windig ist es hier auf unseren Entdeckungstouren, da haben sich alle in Wetterfestes gepackt, die orangenen Schwimmwesten übergezogen und die Mützen tief ins Gesicht geschoben. Jetzt zeigen sie Haut und Rouge und Lippenstift - dazu Gesellschaftstalent.

Bevor uns das Essen zusammen an einen Tisch brachte, hatte es einen Vortrag mit Diashow gegeben. Der war so spannend, dass selbst die Kinder still saßen. Und erst einmal die Erwachsenen! Jeden Abend lernen wir so viel mehr, als damals in der Schule. Über die Vogelwelt Patagoniens und Feuerlands, über den Andencondor, über die Magellanpinguine, die durchs Wasser fliegen, aber fast regungslos an Land stehen, über Kormorane und Albatrosse, Blutschnabelmöwen und Chimangos. Wir lernen, wie Gletscher entstehen und vergehen, und wissen jetzt, woher Feuerland seinen Namen hat: Der portugiesische Seefahrer Fernão de Magalhães - Ferdinand Magellan - sah an der Küste die Lagerfeuer der Ona-Indianer und taufte den Landstrich "Tierra del Fuego", Feuerland. Da hatte er schon ein schwieriges Jahr hinter sich. Auf der Suche nach einer Passage durch den Südzipfel Amerikas, einer neuen westlichen Route zu den Gewürzinseln, war er immer wieder im Insellabyrinth stecken geblieben, bis er endlich die Meerenge fand, die seiner Flotte den Weg zum Pazifik eröffnete: die heutige Magellanstraße.

Heute Abend kursieren Gerüchte im Raum: Morgen soll es heftig werden. Wer hat etwas dabei? Was dabei? Tabletten gegen Seekrankheit! "Meine Großmutter," sagt Percy, "lag 99 Tage vor Kap Hoorn. Sie konnten das Kap einfach nicht umrunden mit ihrem Segelschiff. Zum Schluss haben sie die Ratten an Bord gegessen!" Percy schaut in die Runde und zuckt mit den Schultern. Aber sie müssen es ja schließlich doch noch irgendwie geschafft haben, sonst wäre ihr perfekt Deutsch sprechender Enkel nicht in Chile geboren. Er ist unser Führer durch die Natur - an Land und auf dem Wasser.

Wir werden es morgen an uns vorbeiziehen sehen, das Kap Hoorn. An Land zu gehen wird uns verwehrt bleiben. Der Wind ist zu stark, die Wellen zu hoch. Schade, wir hätten gern dem Leuchturmwärter-Ehepaar die Hände geschüttelt. Das lebt dort erst seit Kurzem mit seinen kleinen Kindern. Am Ende der Welt. Dort, wo der Pazifik auf den Atlantik stößt. Stattdessen halten wir uns mit unseren Händen an der Reling fest. Keiner möchte diesen Augenblick verpassen. Wer hat schon jemals das Kap umschifft? Viele haben es versucht, viele sind gescheitert. "Unter uns liegen etwa 800 Wracks", weiß Percy. Und mehr als 10 000 Menschen. Gefährliche Stelle, ein raues Terrain! Das Kap Hoorn ist immer noch eine Angstgrenze für Seefahrer. Die "Via Australis" meistert sie souverän. Weniger die Passagiere. Wer keine Medikamente genommen hat, ergibt sich blassgrün im Gesicht dem Auf und Ab. Die anderen fotografieren sich gegenseitig. Richard mit Kap Hoorn rechts, Christa mit Kap Hoorn links. Anke mit Kap Hoorn in den blonden Haaren! Ist da vor uns nicht schon die Antarktis in Sicht?

Stunden später tut das Meer so, als wäre nichts geschehen. Der Höllenkessel hat uns wieder freigelassen. Draußen fließt die Landschaft in Grautönen vorbei. Das Meer will uns nicht mehr, es spuckt uns aus, an Land. Das Wunder ist vorüber. Wo waren wir gerade? Was haben wir erlebt? Und wo ist eigentlich das Eis geblieben? "Das schwimmt in deinem Whiskyglas!", sagt Percy und grinst. "Es ist ungefähr 500 Jahre alt!"

Mit der M/N Via Australis in Patagonien