75 Jahre Blue Ridge Parkway - Die längste US-Panoramastraße ist im Herbst am schönsten und führt geradewegs durch die Heimat der “Waltons“

Am besten zuerst mal den groben Überblick verschaffen - vom Schornstein aus. Durch ihn führt praktischerweise ein Fahrstuhl nach oben. Nur die letzten 44 Stufen muss man kraxeln und steht dann in gut 123 Metern Höhe sozusagen auf dem Dach North Carolinas - dem "Chimney Rock". Dieser Granitfelsen mit eingebautem Aufzug heißt so, weil er wie ein Riesen-Schlot aus der Landschaft hervorragt und den 360-Grad-Blick in die Blauen Berge bietet - an klaren Tagen bis zu 120 Kilometer weit. Doch selbst dann wirken ihre dicht bewaldeten Hügel und Kuppen milchig verschleiert und wie in einer Theaterkulisse hintereinandergeschoben. Zwischen ihnen schlängelt sich der Blue Ridge Parkway durch, eine einzigartige, 755 Kilometer lange Panoramastraße, zugelassen nur für Ausflugsverkehr und nicht leicht zu finden.

Denn anders als sonstige US-Attraktionen wird der Parkway nicht an jeder Ampel marktschreierisch mit Adjektiven aus der "Super"- und "Greatest"-Schublade angepriesen, sondern bescheiden erwähnt, bloß mit seinem Namen auf kleinen braunen Hinweisschildern. Kurz hinter Asheville, nach den ersten Kilometern auf dieser kurvigen, lediglich zweispurigen Landstraße die nächste Überraschung: Kein einziges Werbeplakat am Straßenrand, keine Tankstellen, keine Burger-Buden, weder Hotels noch Läden, nicht mal Häuser gibt es hier. Nur Natur: Im Frühjahr Rhododendren- und Azaleen-Dschungel, deren Blütenpracht in Rosa, Orange und Rot förmlich zu explodieren scheint. Während des Sommers "tragen" die Hügel und Senken seitlich des Parkways Grün. Dichte Wälder und schier endlose Efeu-Decken bilden dann rund um die Straße eine Art Cabrio-Bewuchs: Vom Himmel ist beim Fahren nur noch ein schmaler weißer Streifen sichtbar. Am schönsten und prächtigsten aber ist der Herbst - Indian Summer überall, feurig leuchtend mit allem, wozu sich Laub verfärben kann, von Quittengelb bis Weinrot.

Und dazwischen immer mal fette, schwarze Bremsstreifen. Sie prangen wie Tattoos in so mancher der stets sanften Kurven und erzählen davon, dass hier wieder ein Steuermann im Auto zu lange Seh-Mann war und vor lauter betörender Botanik die Straßen aus den Augen verlor. An den alle paar Kilometer eingerichteten Rastplätzen mit 1a-Aussicht kommt man mit passionierten Parkway-Drivern schnell ins Gespräch und wähnt sich sogleich in einer Art Geheimbund. Denn alle schwärmen nur von dieser Straße, aber stets so unamerikanisch dezent und leise, als wollten sie einen Geheimtipp vor allzu viel Andrang bewahren. Helen und Barry in ihrem froschgrünen Jaguar E-Type von 1970 etwa empfehlen Little Switzerland, einen Ort, vollständig mit schweizerischen Fahnen beflaggt und von seinen Bewohnern so getauft, weil die Berge drum herum angeblich aussehen wie die eidgenössischen Alpen. Na ja, mit viel amerikanischer Fantasie vielleicht ...

Kaum ist das Florida-Rentner-Pärchen Richtung Bonsai-Schweiz abgerauscht, erzählt Harley-Fahrer John, er knattere mit seinen vier Kumpels den Blue Ridge Parkway in diesem Jahr komplett und gemütlich entlang, vom Great Smoky National Park in North Carolina bis hoch in den Nachbarstaat Virginia. Am Ende will er dann alleine noch weiter zum "Waltons-Museum". "Gute Fahrt, John-Boy", ruft das Lederkutten-Quartett hämisch und haut ihm dabei kräftig auf die Schulter. Doch John lässt sich nicht beirren, er will sehen, wo genau seine Lieblings-Serie der Siebziger spielte. In Schuyler war es, einem 400-Seelen-Ort etwas abseits des Parkways. Hier wohnte Autor Earl Hamner und hat sich nicht nur die Geschichten rund um die kinderreiche, strenggläubige und herzensgute Sägewerks-Familie ausgedacht, sondern auch den ewig gleichen Schlusssatz jeder Folge: "Gute Nacht, John-Boy". Die Serie spielt exakt zur selben Zeit, in der der Blue Ridge Parkway entstand - kurz nach der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren. US-Präsident Roosevelt kurbelte die Wirtschaft mit Arbeitsbeschaffungsprogrammen an - in den damals armen und ländlichen Bundesstaaten Virginia und North Carolina beauftragte er eine Ausflugsstraße für den zunehmenden Autoverkehr.

Genau das ist der Parkway geblieben, nach wie vor mit Truckverbot, aber heute - 75 Jahre nach dem ersten Spatenstich - mit enormem Freizeitangebot rechts und links der Schlangenlinien-Straße. Überall wo "Zipline-Touren" locken, kann man eingehakt an Seilen durch den Wald sausen. Am Gipfel des 1818 Meter hohen "Grandfather Mountain" wartet die wackelige und höchste Hängebrücke der USA sowie Mildred, eine Braunbären-Omi im Tierpark. Beim Whitewater-Rafting in Boone wird garantiert jeder nass, entweder weil die weiße Gischt der Stromschnellen des Watauga-Rivers ins Schlauchboot schwappt oder weil die Mannschaft des Nachbarkahns gerade mit riesigen Spritzpistolen angreift. Deutlich gelassener geht es bei Burnsville zu, wenn Rex Frederick, ein ehemaliger Börsenmakler und seine Frau Aileen auf ihrer "Clear Creek Guest Ranch" alle Gäste, Stallknechte und Hausangestellte mit deftigen Steaks sowie frischen Forellen gemeinsam zu Tisch bitten. Selbst wer hier deutsches Bier vermissen sollte, muss am Parkway nur die richtige Abfahrt finden - ins Örtchen Sylva zu Dieter Kuhn. Der vor 40 Jahren ausgewanderte deutsche Besitzer der Brauerei "Heinzelmann" hat Alt, Weizen oder Lager im Zapfhahn. Geflossen ist es garantiert am 10. September, denn da haben Anwohner und Fans den 75. Geburtstag ihres Blue Ridge Parkway gefeiert. Und es hat lange gedauet, bis jemand John-Boy gute Nacht sagte.