20 Jahre nach Ende des Kommunismus erwacht Albaniens Metropole zu neuem Leben

Der Ritterschlag ist gerade mal drei Wochen alt. Anfang November war es, als der "Lonely Planet" die zehn besten Reiseziele für das kommende Jahr kürte. Auf dem ersten Platz: Albanien! Albanien? Die Überraschung hätte kaum größer sein können. Die Shkiptaren-Republik, die in vier Jahrzehnten unter der kommunistischen Herrschaft von Enver Hoxha praktisch zur europäischen Bedeutungslosigkeit verkommen war? So ist es! Wer sich vom neuen Zauber des meist unterschätzten und wohl gastfreundlichsten Staats Südosteuropas überzeugen will, beginnt seine Reise naheliegenderweise in der Hauptstadt selbst - Tirana.

Noch sind alle Chancen da: In der pulsierenden Balkanmetropole werden in diesen Tagen bis zu 20 Grad gemessen. Der Aufbruch ins Abenteuer beginnt am komplett modernisierten Flughafen Nënë Tereza in Rinas, der uns gleich mit der berühmtesten Albanerin vertraut macht: Tatsächlich, Mutter Teresa war Bürgerin Albaniens und wuchs in der früheren Hauptstadt Shkodra auf. Heute ist der unangefochtene Dreh- und Angelpunkt allen gesellschaftlichen und politischen Lebens das zentral gelegene Tirana. Offiziell 650 000 Albaner leben hier - inoffiziell dürfte die Millionengrenze schon erreicht sein. Geordnetes Chaos ist der erste Eindruck, der hängen bleibt - und das ist ja meist der bleibende. Konstant verstopft erscheinen die arg verbesserungswürdigen Straßen an den Knotenpunkten der Innenstadt - verstopft von deutschen Auto-Typen, die man eine lange Zeit nicht gesehen hat. Wie in einer Zeitreise quälen sich BMWs und Benz' aus den frühen 90er-Jahren um den Kreiselverkehr, in dem es keine Regeln zu geben scheint.

Tatsächlich, Mutter Teresa war Bürgerin Albaniens und wuchs in der früheren Hauptstadt Shkodra auf

Damit ist dann auch die größte Gefahrenquelle eines Albanien-Urlaubs genannt: Weil Autos erst nach dem Fall des kommunistischen Regimes von Hoxha für die Normalbevölkerung zugelassen worden sind, ist das Fahrverhalten entsprechend - der Nachholbedarf verleitet den Albaner schon zu manch waghalsigem Geschwindigkeitsrausch und Überholmanöver.

Wer sich von den Schrecksekunden nicht aus der Ruhe bringen lässt, wird von einer der wildesten Städte Europas belohnt: Tirana ist alles - und das auf einmal. Angenehm mediterran am Morgen, stickig zu Mittag und süßlich am Abend, bunt an den bemalten Häuserfassaden und dreckig in Einfahrten, eingehüllt vom Dajti-Gebirge und nach allen Seiten offen - nach Montenegro im Norden, Mazedonien im Osten, Griechenland im Süden und Italien an der Küste. Um seine Eindrücke zu ordnen, empfiehlt sich ein Blick vom Sky Tower kurz vor Sonnenuntergang: Die Kruja-Kette mit dem Hausberg Dajti, der sich mit seinem Nationalpark, in dem es noch Bären und Wölfe geben soll, bis zu 1800 Meter in die Höhe zieht, auf der einen Seite des Horizonts, das Zentrum mit der Statue des Nationalhelden Skanderbeg, der einst die Türken ein Vierteljahrhundert von der Landesgrenze fernhielt, der Oper und dem Historischen Nationalmuseum, das in Blau erstrahlt, auf der anderen.

Damit ist die Note für den Abend gesetzt: Tirana kann auch glamourös sein, wenn man ins pulsierende Nachtleben eintaucht, das sich rund um das angesagte Blloku-Viertel unweit der Universität und des Parlaments abspielt - dem Schanzenviertel Tiranas. Während ich in der Villa Vogue an der Flaniermeile Dëshmorët e 4 Shkurtit sitze und an einem Cuba Libre ohne Eiswürfel nippe - Leitungswasser meiden ist für empfindliche nordeuropäische Mägen ein Muss -, wird mir eines schnell klar: Tirana ist die beste beider Welten, der südlichen und östlichen. Und wie in beiden Welten üblich, gibt es ein unschlagbares Argument, das dafür spricht, Albanien kennenzulernen, zumindest als Mann - die albanischen Frauen, die unlängst der Premierminister auf der anderen Seite der Adria auf seine ganz eigene Art hofiert hat, während er den Rest ihrer Landsleute draußen lassen möchte: Die attraktiven Albanerinnen wären immer in Italien willkommen, erklärte Silvio Berlusconi vor ein paar Monaten.

Für ihre Schönheit bekannt waren die albanischen Frauen schon immer - heute machen sie auch Karriere. Es ist die erste Generation, die nach dem Fall des Kommunismus profitiert und die Chancen der Globalisierung ergriffen hat: Die Generation Facebook, vernetzt in aller Welt, zu Hause in Tirana.

Ich spreche mit Armela, die in Washington studiert hat und heute Sales Managerin in einem griechischen Rohstoffkonzern ist, über die Schuldenkrise, die in Griechenland wütet, aber Albanien bisher weitgehend verschont hat, über Champions-League-Ergebnisse vom Vorabend und über Reisepläne. Dann gesellen sich ihre Freundinnen Odeta und Darina, die an der Tiranaer European University Politik unterrichten, zu uns. Keine Frage: Es hat sich viel getan in den letzten zehn Jahren, zumindest Tirana ist sehr europäisch geworden - Englisch wird so selbstverständlich gesprochen wie in Rom, Paris oder Madrid. Schließlich stößt auch Bledi, der sich als Softrocker in Tiranas Bars einen Namen gemacht hat, zu uns und schlägt vor, im nächsten Frühjahr nach Thethi zu fahren, um im wilden, ursprünglichen Norden zu wandern. Dort gibt es Routen, die es nicht gibt - in keinem "Lonely Planet", nirgendwo zu buchen, Routen in völlig abgelegene Dörfer. Die Mädels bestehen unterdessen auf den Süden.

Im ursprünglichen Norden gibt es Wander-Routen, die es nicht gibt – in keinem „Lonely Planet“, nirgendwo zu buchen

Drei Stunden sind es bis nach Vlora, wo 1912 die Unabhängigkeit nach fast 500 Jahren Türkenherrschaft verkündet wurde, sechs Stunden nach Saranda, dem wohl größten Schatz des albanischen Tourismus, der noch vor seiner Entdeckung steht, was nicht zuletzt am rückständigen Straßenbau liegt. Saranda liegt an der griechischen Grenze, ist günstiger und schöner alles, was der deutsche Durchschnittstourist im hellenischen Nachbarstaat geboten bekommt. Wem das zu weit ist, der hat immer noch Durrës, die Hafenstadt, die nur eine Stunde von Tirana entfernt ist und an deren Strand es jeden Sommer die halbe Stadt zieht. Und so schwelgen wir zwischen Sommererinnerungen und der Aufbruchsstimmung des nächstens Frühjahrs, während uns die milde Novemberluft umhüllt. 15 Grad sind es immer noch, wir sitzen noch draußen und könnten morgen aufbrechen. Ach, was - heute Nacht! "Living Room oder Mummie?", unterbricht Armela dann meinen Gedankenstrom mit der Wahl zwischen den beiden angesagtesten Klubs der Stadt: Party geht immer!

Impressionen aus Tirana