In einer Kleinstadt an der Hudson Bay gibt es geführte Eisbär-Touren, aber auch größten Respekt vor den wilden Tieren

Das Thermometer hängt in der Einfahrt neben seinem blauen Pick-up, und wahrscheinlich ist Mike Macri heute Morgen schon hinausgerannt, bevor der Kaffee fertig war. Hat das Quecksilber betrachtet, hat an der Plexiglas-Hülse geklopft, hat die Stirn gerunzelt, so wie an jedem Morgen in den letzten Tagen. Vielleicht ist es kalt geworden letzte Nacht, so kalt wie es eigentlich sein müsste am 30. Oktober im Norden Manitobas, aber selbst ein Temperatursturz auf minus zehn, 15 Grad würde jetzt nicht mehr viel nützen. Viel zu lange war es viel zu mild auch in diesem Herbst. Schon seit ein paar Wochen müsste die Hudson Bay zugefroren sein, stattdessen knabbern ihre Wellen noch immer am Ufer von Churchill.

Und die Eisbären, die längst auf Robbenjagd draußen auf dem Eis sein sollten, lungern noch immer ausgehungert um die selbst ernannte "Polar Bear Capital of the World" herum. An jedem anderen Wochenende kann man in Churchill damit leben. An diesem aber wird es kritisch. An diesem werden die Kinder des Ortes maskiert durch die Straßen ziehen, und jeder zweite Erwachsene wird sich die Nacht um die Ohren schlagen müssen, damit später auch wieder 236 Kinder unversehrt nach Hause kommen. Morgen ist Halloween. Mike Macri nennt es D-Day.

Als Churchill 1717 als Außenposten der Hudson Bay Company gegründet wurde, wusste man nichts von Halloween, und dass man die Handelsstation mitten auf die belebteste Eisbären-Wanderroute in der kompletten Subarktis gesetzt hatte - herrje, das konnte man damals nun wirklich nicht ahnen. Jeden Juni, wenn das Eis auf der Hudson Bay schmilzt, trotten Hunderte Eisbären in die Tundra rund um Churchill, um dort zu übersommern. Im Oktober ist ihre Speckschicht aufgezehrt. Dann sagt ihnen eine innere Uhr (und ihr grummelnder Magen), dass die Bucht wieder zufriert, und sie machen sich mit einem Bärenhunger auf den Rückweg. Ein Eisbär im Oktober ist so hungrig, dass er Wagentüren aushebelt und am Dichtungsgummi knabbert. So hungrig, dass Churchills Müllkippe verdächtig nach einem gefundenen Fressen riecht. Der Bratkartoffel-Geruch aus halb geöffneten Küchenfenstern nach einem Sterne-Menü. Und kleine Kinder möglicherweise nach ... nein, das will Mike Macri nun wirklich nicht wissen. Deshalb wird der Biologe morgen Abend zusammen mit Park Rangern, Feuerwehr, Polizei und Hunderten Helfern den Ort hermetisch abriegeln. Geländewagen werden an den Ortsrändern patrouillieren, Helikopter über ihnen, die Polizei wird Suchscheinwerfer einsetzen und die Ranger zur Not scharfe Munition. Morgen Nacht wird man keinen Eisbären in Churchill dulden. Morgen nicht. Morgen ist D-Day.

Bis Ursus maritimus Ende der Sechzigerjahre unter Schutz gestellt wurde, war das Verhältnis zwischen den Bewohnern von Churchill und den Eisbären ein eindeutiges. Schon die ersten Siedler nahmen jeden Bär ins Kreuzfeuer, der sich hungrig oder neugierig (oder im Zweifelsfalle beides) in Schussweite des Forts Prince of Wales traute. In den folgenden 250 Jahren sollte sich daran nicht viel ändern. Mittlerweile aber hat Churchill gelernt, mit und vor allem von seinen Eisbären zu leben: Meister Weißpetz ist zur größten Touristen-Attraktion Manitobas geworden. Tausende "polar bear watchers" kommen jeden Herbst, um in gepanzerten Geländefahrzeugen auf Eisbären-Besichtigung in die Tundra zu fahren. Wenn die Bärenfreunde wieder abgereist sind, haben sie so viele Dollars in der Stadt gelassen, dass Churchill in Ruhe überwintern kann.

Eisbären-Safari. Der "Tundra Buggy" sieht aus wie ein abgesägter Schulbus, dessen obere Hälfte auf ein martialisches Fahrgestell aus der Requisiten-Garage von "Mad Max" montiert ist. Die Reifen haben einen Durchmesser von mehr als einem Meter, und man wünscht sie sich noch ein paar Zentimeter größer, sobald sich der erste Bär zur Kontaktaufnahme entschlossen hat. Dazu muss man wissen, dass sich hungrige Eisbären weder von Panzerbussen noch von fortwährendem Kameraklicken ablenken lassen. Wenn sie nicht gerade schlafen und in putziger Haltung zusammengerollt in der Gegend liegen, streichen sie um die Tundra Buggys herum wie Geier ums Aas. Eisbären riechen Robben auf über 20 Kilometer Entfernung - da kann man sich vorstellen, welche Anziehungskraft ein Gefährt auf sie ausübt, in dem die Reiseleitung soeben eine Gulaschsuppe aufwärmt. Und man kann sich auch vorstellen, wie schnell so eine Gulaschsuppe verschüttet ist, wenn ein Eisbär sich plötzlich auf knapp drei Meter aufrichtet und versucht, den Kopf in das Buggy-Innere zu strecken.

Dass es bei derartigen Situationen bis auf ein paar weggerissene Kameras bislang keine weiteren Verluste gegeben hat: Das verdankt die Tourismusbranche ihren einheimischen Mitarbeitern. Wer in Churchill aufwächst, wird mit den Bären groß. Schon im Kindergarten gibt es Eisbären-Früherziehung, später in der Schule polare Verhaltenskunde, und als Erwachsener wird man sowieso auf Trab gehalten. Eisbären in Menschennähe erfordern hundertprozentige Aufmerksamkeit. Man muss sie ständig überwachen. Sie im Zweifelsfalle mit dem Betäubungsgewehr narkotisieren. Anschließend ins Bären-Gefängnis schaffen, einen alten Hangar mit 25 Einzelzellen. Und wenn das Eis dick genug ist, muss man ihre 400 Kilo in ein Netz hieven und mit dem Hubschrauber hinausfliegen. Wer sich nicht aktiv an den Rettungsaktionen beteiligt, denkt spätestens beim Zubettgehen an die weißen Riesen: Dann wird nämlich kontrolliert, ob man auch Haus- und Hoftüren unverschlossen gelassen hat. Und ob der Zündschlüssel im Auto steckt. Das ist ungeschriebenes Gesetz in Churchill. Es könnte ja sein, dass sich ein Kneipengänger in Sicherheit bringen muss.

Bleibt der Wirtschaftszweig Eisbär. "Where the sky dances to an ancient melody only the polar bear remembers", schwärmt die Touristenbroschüre, und damit man das auch glaubt, legt jeder hier gerne nach, wenn es um das Haupt-Gesprächsthema geht. Churchill hat etwa 800 Einwohner - und deshalb mindestens 800 verschiedene "Als-ich-morgens-die-Tür-aufmachte-und-der-Bär-da-saß"-Geschichten. Die von jenem Trunkenbold, der auf dem Weg nach Hause angefallen wurde und seitdem nicht mehr derselbe ist. Die vom alten Trapper, der seine Hauszufahrt mit umgedrehten Nägeln bewehrt hat, weil er sich vor der Rache der Bären fürchtet. Und natürlich die von jenem Airport-Mitarbeiter auf dem Rollfeld, der sich wunderte, warum der Pilot seine Anweisungen nicht befolgte und stattdessen wild im Cockpit gestikulierte. "Als der Mann sich umdrehte, wusste er, weshalb", erzählt Fred McGillivary, "der Bär stand hinter ihm, keine zwei Meter entfernt, auf den Hinterbeinen." Und? "Der Mann ist unter dem Flugzeug in Deckung gegangen. Der Pilot hat die Motoren aufheulen lassen, und der Bär ist weggerannt."

Fred McGillivary lebt seit 40 Jahren in Churchill. Kam auf Besuch aus einem Cree-Reservat im Süden und ist geblieben, "die Weite, die Luft, die Leere - hat mir gefallen". In diesem Herbst gefällt es ihm nicht mehr so sehr: Der schlappe Winteranfang, meint er, sei nicht gut für den Ort, überhaupt nicht gut. "Den Eisbären schmilzt der Boden unter den Füssen weg. Jetzt bleiben sie länger in Churchill, und mit jedem weiteren Tag werden sie hungriger. Ich glaube nicht, dass die Zellen im Eisbären-Gefängnis in diesem Jahr ausreichen. Und wenn die voll sind, kriegen wir Probleme. Richtige Probleme. So viele Helikopter haben wir gar nicht, um die alle nach Norden zu fliegen."

Und so könnte es sein, dass Churchills Eisbären die ersten Opfer der globalen Erwärmung werden: Ihr Lebensraum schmilzt ihnen buchstäblich unter den Tatzen weg. Churchill hat das Zusammenleben mit den weißen Riesen im Griff, weil es nur ein paar Wochen dauert. Aber das könnte sich bald ändern - ein Gedanke, vor dem es nicht nur Mike Macri schaudert. Ein D-Day pro Jahr reicht ihm. Vorsorglich will er den Eisbären-Unternehmen im Ort raten, ihre Broschüren für das nächste Jahr neu drucken zu lassen: Die polar bear watchers sollten künftig besser erst ab Mitte Oktober nach Churchill kommen. Sonst sind sie möglicherweise Wochen zu früh dran.