Ein Fernwanderweg in der Rhön wird in touristischen Abschnitten mit kleinen Gruppen der südamerikanischen Paarhufer durchquert

Amigo will immer der Erste sein. Erhobenen Hauptes führt er die Gruppe an. Der alte Fuego hat es nicht so eilig und macht lieber das Schlusslicht. Stetigen Schrittes gehen die Paarhufer voran. Auch der Nachwuchs läuft ganz gut mit einem Lama an der Leine. Die anfängliche Sorge der Teilnehmer, die Tiere aus den Anden könnten spucken, hat sich schnell gelegt. Das würden sie, wenn überhaupt, nur untereinander tun - bei Unklarheiten in der Rangordnung oder aber, wenn sie sich belästigt fühlten, hatte Johannes Nüdling zu Beginn der Wanderung erklärt. Tatsächlich wirken die Lamas lammfromm. Und wer wollte diese schönen sanftmütigen Geschöpfe wohl ärgern. Sogar die Eltern und Großeltern schmelzen dahin, wenn sie in die großen braunen Augen mit den langen dichten Wimpern sehen.

Die elfjährige Anna strahlt und hat die Leine ihres milchkaffeebraunen Zugtiers fest im Griff. Eric, der ein Jahr ältere Bruder, schaut ganz cool, als würde er die Unternehmung eher peinlich finden. Mädchenkram eben. Verstohlen, wenn er glaubt, dass niemand es sieht, streicht er über Pedros seidenweiches Fell. Der 13-jährige Hengst entstammt einem vernachlässigten Tierpark, und es brauchte Jahre der Geduld, bis er jemanden an sich heranließ. Heute ist Pedro der Zuverlässigste aus Johannes Nüdlings Truppe.

Seit acht Jahren unternimmt der 50-jährige Llamero aus Poppenhausen Touren in der Rhön. Männliche Tiere werden als Pack- und Begleittiere eingesetzt, 20 Kilo kann ein Lama tragen.

Im "Land der offenen Fernen" spielt Fremdenverkehr die Hauptrolle. Bereits vor 130 Jahren begann der Rhönklub, das Mittelgebirge mit seinen markanten kahlen Kuppen als Wanderregion zu erschließen. Der 180 Kilometer lange "Hochrhöner" von Bad Kissingen nach Bad Salzungen zählt zu den schönsten Fernwegen Deutschlands. Zu den Lamas kam Johannes Nüdling, als er von einer Tourismusstudie hörte, die in der Rhön großen Bedarf an Wanderungen ohne Gepäck bekundete. Die Schwielengänger, die auf leisen Sohlen durch die Rhön laufen, schienen ihm ideale Besetzung für das Biosphärenreservat zu sein. Die Idee fand Anklang. Ende 2006 wurden seine Lama-Wanderungen durch das Rhöner Altiplano mit dem Gütesiegel "viabono" für umwelt- und qualitätsorientiertes Reisen ausgezeichnet. Amigo, Pedro und Fuego begleiten die Touren von Anfang an und sind schon alte Hasen.

Inzwischen ist die Herde auf 22 Tiere angewachsen, ein Drittel stammt aus eigener Nachzucht. Die Landwirte in Poppenhausen betrachten die Exoten auf der Weide eher argwöhnisch. Die Südamerikaner gehörten nach Bolivien oder Peru und nicht in die Rhön, sagen sie. Zudem könne man sie weder schlachten noch melken, und es seien folglich keine nützlichen Tiere. So umschreibt Johannes Nüdling die Meinung vieler im Dorf.

Die Teilnehmer der Gruppe sehen das anders. Die Lamas machen glücklich, verbreiten Freude und Frohsinn. Sie schlagen nicht aus, sind gutmütig und kinderleicht zu führen. Gibt man ihnen Leine, nutzen sie gern die Gelegenheit, am Wegesrand nach schmackhaften Kräutern zu schauen. Hält man sie kurz, laufen sie wie am Schnürchen.

Der Blick schweift über Wiesen und Felder. Es herrscht reger Flugverkehr. Falken rütteln in der Luft. Motorsegler brummen über die baumlosen Kuppen. Segelflieger, die von der nahen Wasserkuppe abgehoben sind, schweben hoch am Himmel. Die eineinhalbstündige Wanderung zum Guckaisee, dem höchstgelegenen Badesee Hessens auf etwa 700 Metern, führt an einer Pferdekoppel vorbei. Die Gäule rennen wiehernd an den Zaun. Die Lamas hingegen, die schon den Inkas als Lasttiere dienten, haben die Ruhe weg und trotten lässig vorbei. Amigo mit wippendem Puschelschwanz vorneweg. Gaucho, Pedro, Pepino, Pablo, Domingo und Fuego hinterher. Am Ziel werden die Tiere abgesattelt und angepflockt. Doch zuvor verlangt Fuego nach Streicheleinheiten. Er legt einem den Kopf auf die Brust und möchte gekrault werden.

Bei Aufbruch geben die Lamas seltsame Töne von sich: Sie summen. Ob aus Protest oder aus Freude lässt sich nicht ausmachen. Jedenfalls lassen sie sich klaglos beladen und abführen. In Poppenhausen werden die Tiere von den Daheimgebliebenen schon sehnsüchtig erwartet. Der aktuelle Deckhengst macht vor Freude Bocksprünge. Oder ist das Imponiergehabe? Der Abschied von den freundlichen Lamas fällt manchen ziemlich schwer.