Eine Reise durch die Mongolei schafft Gelassenheit. Spätestens dann, wenn die Einheimischen zu einem Glas Stutenmilch-Wodka einladen

Und nun lass mich dir ein Lied erzählen, doch, so heißt das bei uns: Wir erzählen Lieder. Es ist ein altes Lied, ein sehr altes, mein Vater hat es mich gelehrt und ihn wiederum sein Vater. Es handelt vom Wind, der über die Steppen streift und den Sand der Dünen zu kleinen Kapriolen verführt, vom sternenzerstoßenen Himmel und jenem Moment, in dem die Sonne über die Hügel lugt nach einer Nacht kalt wie Eis. Von der Schönheit der Frauen handelt es und von der Wildheit der Pferde, von Klöstern, Schluchten, flirrenden Horizonten. Und von den Mongolen, stolzen Menschen mit Gesichtern wie Geschichtsbücher, die in den Ebenen des Landes umherziehen und sich frei fühlen wie besagter Wind. Es ist ein sehr altes Lied. Vielleicht wurde es schon im Lager des großen Khans gesungen. Vielleicht ist es sogar älter als die Zeit.

In einer Jurte in einem Land jenseits der Morgenröte stimmt ein Mann seine Pferdekopfgeige. Aus dem Birkenholz der Taiga ist das Instrument, aus dem Schweif eines Schimmels die Bespannung des Bogens. Eine Pferdekopfgeige klingt wie ein Hybrid aus Cello und Kirchenorgel, ihre Töne sind warme, alles durchflutende Wellen, die Herz und Seele wärmen wie ein Schluck Wodka an einem frostigen Februartag. Und sie zaubert Bilder im Kopf, die Geige! Schon wenige Takte genügen, um Steppen und Wüsten entstehen zu lassen, und die Sonnenuntergänge und die Herden und überhaupt das ganze weite Land. Wenn die Pferdekopfgeige erklingt, sagen die Mongolen, dann ist einem, als seufze der Wind.

Basandorp ist Musiker. Jeden Abend schlägt er sein Instrument mit dem geschnitzten Rosskopf an der Spitze in ein Filztuch und steigt aufs Pferd, um die Hotelcamps rund um Kharkhorin abzuklappern. Die Stadt schmiegt sich in ein Bett aus sanft gewellten Hügeln in Sattgrün, die schroffen Wände des Khangai-Gebirges halten den Nordwind in Schach, im Westen bildet der Orkhon-Fluss ein surreales Patchwork aus Wiesen und silbrig glitzernden Wasserflächen, in dem Yakherden weiden. Dschingis Khans Erben hatten sich diesen Platz für ihre Hauptstadt Karakorum ausgesucht, aber Kriege, Wetter und acht Jahrhunderte haben kaum mehr von ihr übrig gelassen als drei große Granit-Schildkröten, die mit versteinerten Mienen furchtbar traurig in die Welt hinaus schauen.

Dennoch ist Kharkhorin ein Fixpunkt in den Weiten der Mongolei. An Hochsaisontagen besuchen mehrere Hundert Menschen die buddhistischen Tempel, um sich anschließend wieder in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen. Man trifft nicht viele Touristen in diesem Land: Die Mongolei ist tatsächlich noch ein Ziel mit Echtheitszertifikat.

Und eine Reise durch die Steppen und Wüsten ist ein kleines Abenteuer, da mag sie noch so gut organisiert sein. Allein diese Dimensionen! Anderthalb Millionen Quadratkilometer, so groß wie Deutschland, Spanien und Frankreich zusammen, aber weniger als drei Millionen Menschen, von denen wiederum ein Drittel in der Hauptstadt lebt - wenn ein Attribut auf dieses Land zutrifft, dann dieses hier: leer.

Bis auf eine Handvoll asphaltierter Straßen gibt es ausschließlich Schotter- und Sandpisten, Hinweisschilder sind rare Ausnahmen und brachiale Wetterstürze die Regel, und von A nach B dauert es Ewigkeiten. Man braucht Sitzfleisch auf einer Reise durch die Mongolei. Sitzfleisch und ein gerüttelt' Maß buddhistischer Geduld. Auf gar keinen Fall darf man etwas gegen Schlaglöcher und Bodenwellen haben.

Und Mongolisch sollte man lernen, ein paar Worte. Die Sprache der Steppe hört sich an, als hätten sich die Laute auf ihrem Weg zu den Lippen entschlossen, irgendwo im Rachenraum ein kleines Päuschen einzulegen, bevor ihnen plötzlich bewusst wird, dass sie ganz schnell weiter müssen - in der Eile überschlagen sie sich dann mehrmals und zischen und krächzen nach draußen. Richtig betonen wird man das nie, trotzdem wirken ein paar Brocken Wunder. Reiseführer empfehlen da natürlich ausgemachten Blödsinn - kein Tourist wird sich je in der Landesprache erkundigen, ob die Ziegen auch gut Fleisch angesetzt haben und wann die Familie beabsichtigt, die Jurte abzuschlagen. Viel essenzieller sind Sätze wie "Nein, ich möchte nicht noch mehr Stutenmilch-Wodka - wir haben noch 300 Kilometer vor uns!" oder "Könnten Sie vielleicht eines Ihrer drei Kinder für einen Moment von meinem Schoß holen?" Und am allerwichtigsten aber ist "Nokhoi Khorio!". Das bedeutet so viel wie "Halten Sie bitte Ihren Hund fest!"

Dazu muss man wissen, dass der Hund in den Steppen und Wüsten zur Jurte gehört wie die Solaranlage und die Satellitenschüssel: Es gibt kaum ein Zuhause ohne diese Drei. Wenn sich die Menschen bei Einbruch der Dunkelheit hinter den wärmenden Filzwänden ihrer Rundzelte vor dem Familienfernseher versammeln, beschützen die Hunde draußen die Familienherde. Kaschmirziegen sind wunderschöne Tiere, die mit sanften Augen in die Welt schauen und immer aussehen, als seien sie frisch gewaschen. Herden bestehen aus einigen Hundert Tieren, die Autopisten mit meditativer Gelassenheit überqueren; wenn man aussteigt, hört sich das Tippeln der abertausend Hufe an wie sanft fallender Regen.

Anscheinend sind die Ziegen sehr genügsam, jedenfalls trifft man sie überall in der Mongolei, auch tief im Süden, wo die Gobi steinig wird und an manchen Stellen ausprobiert, wie es denn als Wüste so wäre, wenn man ausschließlich aus fein geschwungenen Sanddünen bestehen würde. Die Hongor-Düne jedenfalls liegt da wie etwas, das nicht wirklich hierhin gehört: 180 Kilometer an- und nebeneinander geschichtete Sandberge, die der Wind ständig modelliert und neu in Form bringt. Beim Besteigen des ersten Kamms ist man sehr vorsichtig, weil man nichts kaputt machen möchte, die eigenen Fußstapfen sehen aus wie Wunden in einer perfekten Schöpfung. Von oben schaut man in die Wellentäler aus Sand und sinniert über Gott und die Welt und die Frage, wie so ein Dünengebirge wohl entstehen mag. Ist all dieser Sand vom Wind hier angeweht worden? Und warum bleibt er ausgerechnet hier liegen? Wo kommt er her? Wo möchte er hin? Und wird er in ein paar Jahren noch da sein?

Es gibt keine Hotels in der mongolischen Steppe, keine Rast- und Gasthäuser, keine Autowerkstätten und auch keine "Tourist Information"-Büros: All das erfüllt jede normale Jurte. Und weil Gastfreundschaft und Mitteilungsbedürfnis stabil verankert sind in der mongolischen Seele und jeder Fahrer zudem einen großen Verwandten- und Bekanntenkreis hat, hält man ständig an irgendwelchen Jurten an und stolpert in irgendein Familienleben hinein, als sei es selbstverständlich - was es wohl auch ist.

Das Innere mongolischer Jurten soll übrigens immer einem bestimmten Aufteilungsprinzip folgen, aber das ist für den Laien nicht zu erkennen. Stattdessen wundert man sich über das Miteinander von Satellitenfernsehen und Dungfeuer, über Kekse aus Ziegenquark und darüber, dass man Mobiltelefone offenbar tatsächlich an Autobatterien aufladen kann. Oben in der Decke haben sie ein rundes Loch für Frischluft, durch das man nachts den Sternenhimmel sehen kann. Manchmal scheint der Mond durch die Luke, eine Säule aus sanftem Licht.

Man wird ruhig auf einer Reise durch die Mongolei, ruhig und - ja, doch: gelassen. Die Leere der Landschaft macht das mit einem, die Herzlichkeit der Menschen und vielleicht auch der Wind, der trübe Gedanken aus dem Kopf treibt, lange bevor sie sich festsetzen können. Wie von selbst gewöhnt man sich kleine Eigenarten an, die morgendliche Tasse Tee auf einem Holzschemel draußen vor der Jurte, das Tätscheln der Pferdenüstern, den Plausch mit dem Koch.

Abends spaziert man in die sanften Hügel hinein, in irgendeine Richtung, auf einen Horizont zu, an dessen leichter Krümmung man das Ende der Erdkugel zu sehen glaubt. Die Sonne ist noch warm, bei jedem Schritt stieben Grashüpfer mit knacksendem Geräusch vor einem auf. Man geht über eine Hügelkuppe und über noch eine, und hinter jeder sieht man noch ein bisschen weiter und ahnt, dass es hinter dieser immer weiter geht.

Weit draußen in der Steppe gewittert es, der Donner klingt, als galoppierte eine Herde Pferde in der Ferne. Und irgendwo in einer Jurte stimmt ein Musiker sein Instrument. Dann setzt man sich ins Gras, schließt die Augen und lauscht, was einem das Land erzählen möchte. Wenn die Pferdekopfgeige erklingt, sagen die Mongolen, dann ist einem, als seufze der Wind. Hinter den Hügeln, in der Steppe.