Eine Glosse von Franz Lerchenmüller

Die Farben dumpf, die Augen stumpf, und in den Ohren scheinen dicke Wattepfropfen zu sitzen. Ein grauer Schleier liegt über allem, und die Minuten ziehen sich wie stundenlang gekauter Bubblegum: Der Jetlag hat dich wieder - neben Flugzeugpasta, offenbar suizidal veranlagten Busfahrern und Durchfallattacken eine der unvermeidlichen Kümmernisse von Fernreisen.

Es ist 15 Uhr im unwirklichen Halifax, Kanada, und acht Uhr abends in der europäischen Wirklichkeit. Bis vor sechs Stunden hast du ihr noch angehört, und innere und äußere Uhr gingen synchron. Die letzte Nacht war sehr kurz, und du könntest jetzt ins Bett fallen wie ein Stein. Doch sieben, acht Stunden musst du dich noch wachhalten, ehe du dir diesen Luxus gestattest. Je später, desto besser, desto eher findest du dich in den neuen Lebensrhythmus ein.

Eine neue Stadt - welch eine Verschwendung an Gerüchen, Bildern und Tönen für den Jetlag-Geplagten! Wo die Neugier auflodern müsste, herrscht müdes Erstaunen: der zweitgrößte Naturhafen der Welt? Ach ja? Hamburger mit frischem Hummer? Na und? Ein Friedhof mit 120 "Titanic"-Toten? Aha.

Trübe irrst du durch nichtssagende Kulissen, ertappst dich, wie du seit drei Minuten eine Fassade anstarrst: Versonnen, denkst du - hirnlos in Wirklichkeit. Denn wo dieses Organ sonst zuverlässig schaltet, sitzt heute eine schwammige Vertretung. Dazu immer wieder dieses kaum zu unterdrückende Gähnen! Und plötzlich entdeckst du dich irgendwo, wo du ganz bestimmt nicht hinwolltest, und erinnerst dich nicht, wie es dazu kam. Die Tasche auf dem Rücken? Steht sie etwa schon dort, seit du das Hotel verlassen hast? Und die Kamera, die dort sonst immer liegt? Hattest du sie nicht eingepackt - oder geht sie jetzt an einer anderen Hand spazieren? Egal. Jetlag dämpft selbst Verlustängste.

Die paar Gedanken, die aufflackern, drehen sich um die kommende Nacht: Wann wirst du aufwachen? Um drei, gepeinigt von dem Wissen, dass es in dir acht Uhr morgens ist, endgültig nichts mehr geht in Sachen Schlaf und spätestens am frühen Nachmittag die Lider zu flattern beginnen wie die Lamellen der Klimaanlage jetzt?

Oder wird es schon vier sein - und du schaffst es, dich noch einmal davonzustehlen in einen trüben Dämmer, ehe die Gedankenmaschine anspringt und unaufhaltsam zu rattern beginnt? Vielleicht aber hast du ja doch wieder einmal Glück: Du schlägst die Augen auf zu der braun getüpfelten Gardine des Hotelzimmers. Dahinter zeichnet sich schon etwas Helleres ab als frühe Morgendämmerung, und leise braust der Lärm des Verkehrs: Ist es etwa schon sechs? Fantastisch, Halifax, wie schön dich zu sehen. Hej, Tag, komm!