In der Kirche zum Heiligen Kreuz auf einer Insel im türkischen Van-See findet am Sonntag die erste armenische Andacht nach mehr als 100 Jahren statt.

Septembertage können am Van-See noch sehr heiß sein. In der Gluthitze des Sommers hat sich der größte See der Türkei ordentlich aufgeheizt, und in den kleinen Buchten der Insel Achtamar springen die Besucher gern noch einmal in das 21 Grad warme Wasser, das ein wenig nach Salz und Seife schmeckt.

An diesem Sonntag aber tobt niemand durch das türkise Nass. Jetzt geht es feierlich zu, denn dieser Tag wird ein historischer.

Schon früh am Morgen bringen die Fährschiffe Hunderte gut gekleideter Frauen und Männer vom Festland herüber. Zweihundert finden Platz im kahlen Inneren der Kirche zum Heiligen Kreuz und folgen dem armenischen Gottesdienst, dem ersten, der seit mehr als hundert Jahren hier abgehalten wird. Die anderen, Tausende sollen es im Lauf des Vormittags werden, stehen dicht an dicht zwischen den wilden Mandelbüschen, hoch bis zum Fuß des sonnenverbrannten Berges. Wer Glück hat, findet einen Platz nahe der Kirche und kann in Ruhe die großartigen Sandstein-Reliefs bewundern, die sie an allen vier Seiten zieren. Da ist Jonas, bärtig und in der vollen Pracht seines Schopfes, den ein paar wilde Kerle von Bord eines Schiffes ins Meer werfen. Nicht ein Wal verschlingt ihn freilich, sondern ein geflügelter Seelöwe. Im Magen eines solchen Ungeheuers zu überleben, erweist sich als harte Prozedur: Als er ausgespuckt wird, hat er Bart und Mähne verloren. Direkt darüber verziehen vier Männer ihr Gesicht zu schmerzlichen, entsetzten Fratzen: Eben haben sie seine Prophezeiung vernommen, dass ihre Stadt Ninive dem Erdboden gleichgemacht wird ...

Großartige Steinreliefs sind es, in denen sich Abbildungen aus dem 10. Jahrhundert anschaulich ablesen lassen - jene Zeit, in der die Kirche erbaut wurde. Gagik der Erste war es, aus dem armenischen Geschlecht der Artsruni, der einen Palast, ein Kloster und die Kirche auf die Insel hatte setzen lassen. Schon bald war der Komplex ein kulturelles Zentrum der Armenier, in dem auch ihr Oberhaupt, der Katholikos residierte. Doch der Reichtum der Artsrunis schwand, der Palast verfiel, das Kloster wurde 1915 zerstört. Als der osmanische Sultan die Armenier aus der Osttürkei deportieren ließ und Hunderttausende ermordet wurden, blieb die Kirche als Ruine zurück. Fast ein Jahrhundert lang schossen Schwalben als einzige Gäste zwischen den hohen Pfeilern hindurch.

2005 restaurierte der türkische Staat das Gebäude und öffnete es 2007 als Kulturdenkmal. Gespräche, dort einen armenischen Gottesdienst abzuhalten, gab es schon länger. Und auch wenn das armenische Kirchenoberhaupt nicht dabei ist, weil die türkische Seite sich weigerte, ein Kreuz aufzustellen, stellt die Messe einen wichtigen Schritt zur weiteren Annäherung der verfeindeten Völker dar.

Für die Provinz Van ist sie jedenfalls ein Großereignis. Alle Hotels sind ausgebucht. Schon im Frühling hatte der Governeur per Zeitungsanzeige dazu aufgerufen, eine "warmherzige, gastfreundliche Türkei" zu präsentieren: 4000 Haushalte beherbergen in diesen Tagen Gäste. Hikmet Deniz, der einen Campingplatz am See betreibt, hat eine Zeltstadt für 200 Menschen aufgebaut. Recep Teran, Kioskbesitzer auf Achtamar, hat reichlich Broschüren geordert und macht mit den 15 Lira, umgerechnet 7,50 Euro, teuren Modellen der Kirche heute das Geschäft seines Lebens.

Sie alle hoffen, dass der Tourismus in der Osttürkei Aufwind erhält. Van mit seinen fast 350 000 Einwohnern ist eine lebhafte Provinzhauptstadt, in der sich Ableger moderner Textil- und Elektrogeräteketten mit alteingesessenen Goldschmieden, Obsthändlern und Bäckereien mischen. Die Firma Urartu Hali beschäftigt 2500 Teppichweberinnen und hat 16 000 Kelims aus vielen Regionen und Epochen auf Lager. Im Garten spielen die berühmten Van-Katzen: Nur mit weißem Fell und je einem blauen und einem gelben Auge sind sie echt. Diese Exzentriker lieben, was Katzen auf der ganzen Welt sonst hassen: das Wasser. Van-Katzen sind begeisterte Schwimmer, manche sollen sich gar am Fischfang versuchen.

35 Kilometer von Van entfernt liegt die Ausgrabungsstelle von Cavustepe. Die Urartäer haben hier Mitte des 8. Jh. v.C. auf einem Berg einen Palast errichtet. Mindestens so interessant wie die alten Getreidebehälter, der Wasserkanal und die vorchristliche Toilette aber ist die Geschichte von Mehmet Cusman, der durch die Anlage führt. Der heute 70-Jährige arbeitete nach fünf Jahren Grundschule und dem Militärdienst bei den Ausgrabungen mit. Dabei erlernte er zunächst die Keilschrift, die die Urartäer benutzten, und brachte sich bei Reisen nach Tschetschenien, dessen Sprache mit der urartäischen verwandt ist, letztere selbst bei. Angeblich ist er einer von gerade mal 36 Menschen weltweit, die das alte Idiom verstehen - ein Österreicher und ein Russe, die ebenfalls kundig waren, sind kürzlich verstorben.

Ein beeindruckendes Stück Armenien findet sich auch in Ani, 250 Kilometer nördlich von Van. Wie Menetekel ragen auf einem weiten Plateau Ruinenbruchstücke zwischen Kardendisteln hoch. Im 10. Jahrhundert war Ani für kurze Zeit die Hauptstadt des Armenischen Reiches. Zwischen 50 000 und 100 000 Menschen sollen hier gelebt haben, ehe Seldschuken, Georgier und Mongolen über das blühende Gemeinwesen herfielen und ein Erdbeben 1319 den Rest erledigte. Brüchige Fassaden, halb eingestürzte Kuppeln, mächtige Steinquader und geborstene Säulen zeichnen sich gegen den blauen Himmel ab. In der Gregorkirche haben Fresken mit ernsten Gesichtern in klaren Linien die Jahrhunderte überdauert. An der letzten Wand der Kathedrale ist das Abendmahl verblasst. Viel frischer sind die Graffitis von Halil Kaya und Ataray Hulya: Die beiden müssen über einen lebensgefährlich schmalen Sims nach oben geturnt sein, um ihre Namen zu hinterlassen. Von der luftigen Moschee aus dem Jahr 1072 geht der Blick hinunter in die Schlucht und auf den Fluss, an dem nur ein Stacheldraht die beiden Länder trennt.

Auf Achtamar wandern Besucher am Sonntagnachmittag ein Stück den Berg hinauf. In der tief stehenden Sonne glüht die Kirche vor dem Meer auf und leuchtet in rötlichem Gold. Die Gäste haben heute ihre Geschichte erfahren, haben die Reliefs bewundert, ihre Fresken bestaunt - warum sie als die schönste aller armenischen Kirchen in der Türkei gilt, verstehen sie erst jetzt.