Die Katharer in Südfrankreich lebten nach eigenen Ritualen - und waren der Kirche ein Dorn im Auge
Nichts ist von ihnen geblieben. Absolut nichts. Es gibt keine Schriften. Es gibt keine Bilder. Keine Kirchen. Keine Kultgegenstände. Die Anarchisten des 12. Jahrhunderts wurden auf Scheiterhaufen verbrannt und mit Stumpf und Stiel ausgerottet." Jean- Louis ist ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, was nicht so ganz korrespondieren will mit seiner eher beklemmenden Ouvertüre. Doch die Erklärung folgt prompt: "Und trotzdem kommen Leute aus aller Welt in Scharen, um sich auf die Spuren dieser Menschen und ihres Glaubens zu begeben. Ist das nicht wunderbar? Willkommen im Land und in der faszinierenden Welt der Ketzer."
Wie ein Harlekin tanzt der aufgedrehte Franzose über den Mauerumgang von Carcassonne und dreht sich mit ausgestrecktem Arm um die eigene Achse. Im Westen zeigt sein Finger Richtung Toulouse, im Norden nach Albi. Im Osten liegt Béziers, und im Süden thronten auf Felsen berühmte Bergbastionen wie Montségur und Quéribus. Alles Hochburgen und Zufluchtsorte des Katharismus, wie auch die mittelalterliche Bilderbuch-Burgenstadt Carcassonne mit ihren dicken Mauern und vielen Türmen.
"Fast alles, was wir heute über die Katharer wissen, stammt aus Schriften ihrer Gegner und den Archiven der Inquisition", fährt Jean-Louis fort und unternimmt mit uns in den nächsten anderthalb Stunden eine Zeitreise. Es würde nicht wundern, kämen sie hier am Burggraben um die Ecke - jene hageren, bleichen, langhaarigen Gestalten in ihren wallenden schwarzen Gewändern, die auf ihre Mitmenschen wie Wesen aus einer anderen Welt gewirkt haben müssen.
Damals, im 12. Jahrhundert, erlebte das südliche Frankreich eine kulturelle Blütezeit. Troubadoure zogen durchs Land, priesen die sittliche Hoheit der Frau und besangen die keusche Liebe. Die Katharer übertrugen die Minnegesänge auf die spirituelle Ebene - für sie war das die vollkommene Welt Gottes. Im Gegensatz dazu existierte die materielle Welt als Reich des Bösen mit Satan als Schöpfer alles Irdischen.
In der Absage an diese Welt waren die Katharer überaus rigoros. Die Reinen, wie sie sich nach dem griechischen Wort "katharos" nannten, lebten in extremer Askese, strebten nicht nach Besitz und verurteilten das Geld "als Fäulnis der Seele". Sie bekämpften jede Form von Sinnlichkeit und Sinneslust als Sünde, lehnten die Fortpflanzung ab und propagierten die platonische Liebe und die Tugend der Keuschheit.
"Mit alldem hatten sie riesigen Erfolg", meldet sich Jean-Louis wieder zu Wort, "denn im Gegensatz zur Kirche haben sie ihren Glauben wahrhaftig gelebt. Damit fanden sie glühende Anhänger nicht nur im Volk, sondern auch bei vielen adligen Männern und Frauen."
Die Kirche wurmte all das gewaltig. Als verstärkter Missionseinsatz nichts fruchtete, griff sie schließlich zu Feuer und Schwert. "Tötet sie alle, Gott wird die Seinen schon erkennen!" - mit dieser Parole legitimiert der päpstliche Legat im Juli 1209 die Brandschatzung von Béziers und die Ermordung seiner 20 000 Einwohner, von denen nur etwa zehn Prozent Katharer waren.
"Nach dem Massaker von Béziers kamen sie hierher", erzählt Jean-Louis mit so viel Leid in Antlitz und Stimme, als sei er dabei gewesen. Eigentlich galt Carcassonne wegen seiner massiven Befestigung als uneinnehmbar, doch der Stadt ging das Trinkwasser aus - sie musste kapitulieren. "Hier richteten die fanatisierten Kreuzritter zwar kein Blutbad an, aber die Einwohner wurden aus der Stadt verbannt und mussten sie im bloßen Hemd verlassen."
Fortan loderten überall im Süden die Scheiterhaufen, auf denen Katharer hingerichtet wurden. Die Überlebenden verschanzten sich im schwer zugänglichen Bergland in den Burgen der ihnen weiterhin wohlgesonnenen Fürsten. Die letzte große Schlacht fand 1244 um den Montségur statt; 200 Katharer weigerten sich, ihrer Religion abzuschwören und starben im Feuer.
Elf Jahre länger hielt Quéribus durch. Der Aufstieg zu den Ruinen der Felsenbastion ist nicht lang, aber sehr anstrengend. Kaum vorstellbar, dass sich 1255 die Truppen des Königs in voller Montur und Bewaffnung diesen nackten Felsen hinaufgequält haben, um die letzte Fluchtburg der Katharer zu erobern. Wir jedenfalls kochen im eigenen Saft und keuchen uns die Lungen aus dem Hals. Zur Belohnung gibt's eine fantastische Aussicht.
Auch die quirlige Backsteinstadt Toulouse und das reizende Albi gehören auf die Agenda, wenn es um die Katharer geht. Hier stehen imposante Bauten, in denen sich die lange Auseinandersetzung zwischen Kirche und Ketzern manifestierte. Die Backstein-Kathedrale Sainte-Cécile in Albi zum Beispiel ist ein Werk des Bischofs und Großinquisitors Bernard de Castanet, der die Feinde der Kirche mit besonderer Grausamkeit verfolgte. Das Bauwerk erhielt den Beinamen "Kathedrale des Hasses". Kein Katharer hat ihre Fertigstellung erlebt - der angeblich allerletzte starb 1321 auf dem Scheiterhaufen.