Auf der Schweizer Bernina-Strecke rollt seit 100 Jahren ein Zug bis in beeindruckende Höhen - und das zumeist auf die sekunde pünktlich.

Diese Eisenbahn fährt nicht, sie klettert. Kurve um Kurve rollt sie den Berg hinauf. Ein bisschen Kreischen an den Biegungen, ein bisschen Ruckeln über den Weichen, doch große Mühe scheint die Reise der Rhätischen Bahn (RhB) in die Schweizer Bergwelt jenseits der Baumgrenze nicht zu bereiten. In gerade mal 20 Minuten schaffen die knallroten Züge der Bernina-Linie einen Anstieg von 1800 Metern. Diese Leistung wäre für sich genommen schon sensationell, wird aber noch getoppt von der Tatsache, dass die mehr als 2200 Meter hohe Route selbst im tiefen Winter noch befahren wird. Das macht der Rhätischen Bahn in den Alpen niemand nach.

Tausende Touristen kommen jedes Jahr, um die Wunder vom Bernina-Pass und den Zufahrtsstrecken zu bestaunen: die eindrucksvolle Bergwelt des Kantons Graubünden und die technischen Finessen der Eisenbahn, die sogar die Unesco beeindruckt haben. Im Jahr 2008 kürte sie die Bernina-Strecke zum Weltkulturerbe.

Richtig gefeiert wird allerdings erst in diesem Jahr. Vor 100 Jahren rollte der erste Zug die 122 Kilometer von St. Moritz über den Pass bis ins italienische Tirano. 2500 Arbeiter hatten gegen meterhohen Schnee, Geröll und Kälte geschuftet, bis die erste "Elektrische" den Pass erklimmen konnte.

Zum offiziellen Geburtstagsfest in Brusio, dem vorletzten Schweizer Dorf an der Passstrecke, reiste sogar das Staatsoberhaupt an. Bundespräsidentin Doris Leuthard kam zwar nicht mit der Bahn, sondern im Dienst-Mercedes. Dennoch waren die Bahner mächtig stolz auf den hohen Gast und schenkten ihr zum Abschied ein Kuscheltier. Der "Bär Nina" wacht jetzt in der Hauptstadt Bern.

In einem Land, das für den Uhrenbau berühmt ist, nimmt man es auch mit dem Fahrplan genau. Die blitzsauberen Nahverkehrszüge fahren in der Regel auf die Sekunde pünktlich und sind auf die Bedürfnisse von Fotofreunden zugeschnitten: Die Fenster lassen sich weit öffnen. Mit der konsequenten Erneuerung des Fuhrparks verschwindet aus den betagten Wagen allmählich auch ein echter Eisenbahnklassiker: das Plumpsklo. Luxuriös geht es im voll klimatisierten Bernina-Express zu, der zweimal am Tag über die Alpen rollt. In den Wagen mit den riesigen Panorama-Fenstern servieren die Kellner am Platz, während reihenweise die Drei- und Viertausender draußen Spalier stehen.

Wer nicht im mondänen St. Moritz starten möchte, ist in der Bischofsstadt Chur gut aufgehoben, die auf eine 5000-jährige Geschichte zurückblicken kann und damit älteste Stadt der Schweiz ist. Vor dem Start mit der "kleinen Roten" (Werbeslogan der RhB) lohnt sich ein Bummel durch die Altstadt und die Geschäfte. Zwar leben in der Hauptstadt des dünn besiedelten Kantons Graubünden nur 33 000 Einwohner, doch Chur gilt als größte Einkaufsstadt zwischen Zürich und Mailand.

Die Bernina-Tour beginnt so beschaulich durch Wiesen und Felder, durch Tunnel und über Brücken, dass mancher Reisende schon den gewaltigen Landwasser-Viadukt übersehen hat. Der Express kommt aus einem Tunnel, schon folgt der 100 Meter lange und 65 Meter hohe Viadukt, und dann verschwindet der Zug im nächsten Tunnel. Ein paar Kilometer weiter wird es erneut finster. Im Albula-Tunnel, einem der höchstgelegenen Europas, saust die Bahn aufwärts.

Auch die 107 Jahre alte Albula-Strecke hat die Unesco beeindruckt. Als sie die Bernina-Strecke zum Weltkulturerbe kürte, schloss sie den 60 Kilometer langen Abschnitt zwischen den Bergdörfern Thusis und Celerina mit ein und würdigte damit die Meisterleistung der Ingenieure, die sich zwischen steilen Bergwänden und atemberaubenden Schluchten ihre Planungen der Natur anpassten und mit der Bahn eine Lebensader für die Region schufen. Die Konstrukteure wussten: Zu der abenteuerlich anmutenden Linienführung mit ihren 55 Brücken und 39 Tunnels gibt es keine Alternative.

Noch heute bewundern Eisenbahnfreunde die Leistungen der Techniker und Bauarbeiter. Sie bauten Kehrtunnel, die im Berg Höhenunterschiede überwanden, indem sie die Strecke wie in einer Parkhauszufahrt um die eigene Achse in die Höhe schraubten. Sie bauten Viadukte, die in einer Kurve tiefe Schluchten zwischen zwei Tunnelöffnungen überbrücken und noch heute so robust sind, dass sie selbst schwere Güterzüge verkraften.

Schon kurz nach der Fertigstellung der Albula-Linie schrieb die "Leipziger Illustrierte Zeitung": "Die Thalstrecke Bergün-Preda ist unbedingt die großartigste Partie der ganzen Bahn und darf sich mit ihren Kunstbauten, zu denen noch kostspielige Vorkehrungen gegen Lawinengefahr kommen, unbedingt unter die ersten Eisenbahnbauten der Welt zählen."

Höhepunkt der Strecke zwischen Chur und Italien ist jedoch zweifellos der Jubilar: der Bernina-Pass. Ohne Zahnräder rumpeln die Züge auf eine Höhe von 2253 Metern. Dort schmilzt der Schnee erst im Juni. Im Winter türmt er sich meterhoch. Haben die Schneefräsen die Strecke freigeräumt, rollt die Bahn wie in einem weißen Trog. Nur die Stromabnehmer der Lokomotiven ragen oben heraus. Übers Jahr gesehen messen die Meteorologen Schneemengen, die sich auf bis zu 26 Meter (!) addieren.

Auch bei schlechtem Wetter lohnt sich die Tour: Bei Regen oder Nebel offenbaren sich die Weite und Einsamkeit eines Gebirges, in dem Heidi, Öhi und Ötzi ihr karges Dasein fristeten. Südlich der Schneegrenze geht es steil bergab bis auf 400 Meter Höhe durchs Puschlav, wo die Schweizer italienisch leben.

Früher zog das enge Tal Schmuggler an, die ihre Waren auf gefährlichen Pfaden von Italien über den Pass ins Kernland transportierten. Heute genießen Touristen Wanderwege und die ländliche Variante der italienischen Küche. Im Puschlav geht es rustikal zu: schlichte Pensionen statt mondäner Hotels, Wanderrouten statt Wellness-Oasen, ein süffiger namenloser Vino Bianco und Käse vom Bergbauern statt Schampus und Crevetten. Wer den Luxus sucht, ist in St. Moritz oder Davos besser aufgehoben. Mit der RhB über den Pass ist es nicht weit.