Keine Kreidefelsen oder mondänen Seebäder, dafür stille Buchten und weites Bauernland

Sommer im Bauernland zwischen Vaschvitz und Natzevitz. Stille liegt über den welligen Wiesen. Über den Rassower Strom gleitet ein Segelboot, Kähne dümpeln am Ufer, Kinder lassen Steine übers glitzernde Wasser springen. In verschlafenen Dörfern kuscheln sich Fachwerkhäuser, vielfach liebevoll renoviert, um alte Backsteinkirchen. Radfahrer holpern übers Kopfsteinpflaster und durch die grünen Tunnel der Alleen, manchmal endet ein Weg ohne Vorwarnung an einer einsamen Bucht. Womöglich kreist dort auch noch ein Milan wie bestellt am Himmel, und Wolkengebirge türmen sich am Horizont auf.

Olaf Müsebeck, Chef der Historischen Handwerkerstuben in Gingst, backt am Vormittag diverse Kuchen, Mohn, Kirsch, Eierschecke. Später werden die Museumsbesucher seine Torten genießen, im Gartencafé unter alten Eschen, umgeben von reetgedecktem Fachwerk und weißgeschlämmten Häusern. Dieses Ambiente passt zur Zeitreise im Museum. Dort hockt eine Schneiderpuppe auf dem Tisch, wie es noch vor einigen Jahrzehnten üblich war, in anderen Stuben werden Erinnerungen an den Barbier von früher und die Küchen aus Großmutters Zeiten wach.

Nur einmal im Jahr wird es richtig voll bei ihm auf dem Hof und vor der Jacobi-Kirche. Mitte August treffen sich hier die Kunsthandwerker, die Honig- und Bio-Produzenten aus der Region. Dann verkauft auch Silke Stephan wieder ihre Kräuter und ihre Sanddorn-Marmelade. Sie ist Vorsitzende des West-Rügen-Vereins, der geradezu liebevoll-altmodisch für den milden Westen der Insel wirbt, für einen sanften Tourismus, für eine Gegend, die wie aus der Zeit gefallen wirkt.

Ein bisschen erinnern die beiden sommerlichen Markttage an Zeiten, als Gingst Knotenpunkt eines Handelsweges war, auf dem Salz und Heringe transportiert wurden. St. Jacobi nennt sich deshalb bis heute Wegekirche, wie so viele im Westen Rügens. Sie sind die Landmarken der Region: St. Katharinen in Trent mit ihrem Barockaltar, Maria-Magdalena in Neuenkirchen mit einer Glocke aus dem 14. Jahrhundert, St. Johannes in Schaprode mit einem einmaligen Triumphkreuz, über 500 Jahre alt. Dort, am Fährübergang nach Hiddensee, wo einst Seefahrer ihre Reisen ins Nordmeer und bis nach Italien starteten, wirkt Pastor Martin Holz. Er ist zugleich Küster, Verwalter, Programmchef für die sommerlichen Konzerte und ein engagierter Führer: "Diese Kirche", so schwärmt der Theologe und Historiker, "predigt sich von allein". Manchmal trifft Holz in seinem Gotteshaus Touristen, die ihrem Schiff nach Hiddensee hinterher geschaut haben: ",Glück gehabt', sagen danach viele. ,Wir haben zwar die Fähre verpasst, aber ein Juwel gefunden.'"

Das gilt auch für Radwanderer und andere Ausflügler, die plötzlich vor der Kulturkirche Landow stehen, jenseits aller bekannten Straßen. Dicke Feldsteine bilden ihr Fundament, im warmen Lichte eines Sommernachmittags leuchtet das Rot des Backsteins, der Wetterhahn dreht sich in der Brise, die vom Kubitzer Bodden herüberweht. Pfarrer Christian Ohm, auch einer der vielen engagierten Pastoren auf der Insel, hat diese älteste Fachwerkkirche Deutschlands lange Jahre betreut. Er gehört nach wie vor ihrem Freundeskreis an und freut sich über Ausstellungen und Diskussionsrunden, die immer mehr Rüganer und ihre Gäste ins abgelegene 15-Seelen-Dorf Landow locken.

Boldevitz, Pansevitz, Tribbevitz, Zubzow, Ortsnamen, die an die slawische Vergangenheit der Insel erinnern, aber auch Namen großer Güter, deren Geschlechter die Geschichte Rügens über Jahrhunderte geprägt haben, die Knyphausens, von Platens, von der Ostens. Mehr als 200 Herrenhäuser hat es einst auf Rügen gegeben, die meisten sind den Zeitläufen zum Opfer gefallen. Aber immerhin noch 80 kleine Schlösser stehen heute unter Denkmalschutz. In manchen setzen alte Familien ihre Traditionen fort wie auf Boldevitz, einem der schönsten Anwesen; anderswo, wie auf Gut Streu bei Schaprode, sind Liebhaber der Insel von auswärts gekommen, um zu bleiben.

Der Hamburger Hans-Peter Reimann war hochrangiger Hafenmanager, seine Frau Gisa Lehrerin in Volksdorf, bevor sie 1995 nach Rügen kamen, zunächst nach Binz, später an die stille Westküste. Als die beiden 2001 das Gut Streu übernahmen, war dort nichts mehr vom Glanz früherer Zeiten zu sehen. Es begann das Abenteuer "Schlossrenovierung", an das sich die Reimanns rückblickend zuweilen nur mit Schaudern erinnern. Heute aber leuchtet das Herrenhaus in strahlendem Weiß, die Hamburger Flagge flattert im Ostseewind, Gisa Reimann hat sich der Inselgeschichte verschrieben und fühlt sich als Malerin vom Licht und den sanften Farben dieser Region inspiriert.

Bereits in vierter Generation bearbeitet hingegen Holger Kliewe das Land seiner Vorfahren. Der studierte Landwirt aus Mursewiek hat aus seinem Bauernhof ein Erlebniszentrum gemacht. Noch immer wird dort Geflügel gezüchtet, Enten, Gänse, Puten. Aber vor allem vergnügen sich Urlauberfamilien auf dem Anwesen, fahren Trecker, streicheln Ponys oder reiten. Kliewes Land grenzt ans Wasser, direkt gegenüber liegt Ummanz, eine Insel von rauer Schönheit, die mit Rügen durch eine Brücke verbunden ist.

Jetzt im Sommer verlieren sich dort nur ein paar Dutzend Urlauber. Bernd Hopp, einer von fünf Fischern, die im kleinen Hafen von Wasse übrig geblieben sind, schrubbt sein Boot. Er nimmt sich Zeit für einen Klönschnack, sieht keine Zukunft mehr für sein Gewerbe, auf Ummanz nicht, auf Rügen nicht, an der ganzen Küste nicht: "Die Vorschriften, die Einschränkungen machen uns kaputt." Aber weg von dieser Küste, vor der schon Vater und Großvater gefischt haben, will er nicht, niemals. Nur ein paar Schritte vom Hafen entfernt stellt Töpfermeisterin Susan Schmorell aus. Ihre Krüge, Vasen und Schalen verziert sie vorwiegend mit Kranichen, Kornblumen und anderen Motiven aus der Umgebung. Das Ladengeschäft ist Teil eines Ensembles restaurierter Fachwerkbauten, die sich um die Ummanzer Kirche gruppieren. Auch die "Alte Küsterei" gehört dazu, das Informationshaus des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft.

Roland Bich ist einer von mehreren Rangern, die von hier aus über die Natur von Ummanz wachen, Flora und Fauna erklären und dabei, wie die Besucher überall im Westen von Rügen, nahezu jeden Tag Überraschendes erleben, zum Beispiel Kegelrobben zuschauen, wie sie sich genüsslich im Flachwasser oder auf Sandbänken aalen. Vom Beobachtungsturm in Tankow geht sein Blick in die amphibische Landschaft. Noch ist es ruhig im Röhricht. Aber schon bald, ab Mitte September, fliegen Grau-, Bless- und Kanadagänse ein, Singvögel vieler Farben und Größen, Hunderttausende kleiner Goldregenpfeifer. Und wenn erst die Kraniche, 6000 und mehr, wieder ihre Schlafplätze am Udarser Wiek aufsuchen, kann es voll werden im sonst so stillen Westen.

Stundenlang kann der sonst so ruhige Ranger die Wunder der Natur auf Ummanz und Umgebung erklären: Warum die Kraniche bei Nordostwind in die Vordeichwiesen ausweichen. Wie man hören kann, ob der königliche Vogel fliegt oder steht, auch wenn man ihn gar nicht sieht. Auf welchen Routen Hirsche, Wildschweine oder Rehe zwischen Ummanz und Rügen durchs Wasser wechseln. Roland Bich weiß so etwas, und er vermittelt sein Wissen, seine Passion an Schulklassen, an Tagestouristen und an Stammgäste, die ihm jedes Jahr im Herbst beim Zählen der Kraniche helfen.

Was für ein abenteuerliches Land, dieses andere Rügen. Kap Arkona, Binz und der Koloss von Prora, das alles liegt nur gut 30 Kilometer weit weg - und doch Welten entfernt.

Video: Sandskulpturen Festival 2010