An Simón Bolívar kommt in Caracas keiner vorbei. Beim Rundgang in der Innenstadt stößt man überall auf die Spuren des Unabhängigkeitskämpfers

Heute dürfen die Damen Hosen tragen, und kaum ein Mann zieht noch ehrfurchtsvoll den Hut, wenn er an der Statue des Befreiers vorbeigeht. Das heißt aber nicht, dass es mit der Heldenverehrung vorbei wäre in der venezolanischen Hauptstadt, ganz im Gegenteil. Auf der Plaza Bolívar von Caracas gilt es nach wie vor als respektlos, die Füße auf den Parkbänken hochzulegen. Das Hosenverbot existierte noch bis in die 70er-Jahre auf dem wichtigsten Platz der Altstadt. All das, um dem Libertador, dem Befreier, Achtung zu erweisen.

"Natürlich ist er ein Held", sagt der Parkwächter, der neben dem Konterfei Simón Bolívars hoch erhobenen Kopfes über eine Einfahrt wacht. "Wir sind auch das einzige Land der Welt, in dem in jeder Stadt und in jedem Dorf eine Plaza Bolívar zu finden ist", ergänzt er stolz. Venezuelas höchster Berg trägt Bolívars Namen, selbst die Währung ist nach ihm benannt, außerdem eine Provinz und mit Ciudad Bolívar auch deren Hauptstadt. In ganz Venezuela kommt man an Simón Bolívar nicht vorbei, in Caracas also erst recht nicht. Hier wurde der Anführer der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung im Jahr 1783 geboren, hier erinnert in jeder Ecke der historischen Altstadt etwas an sein Leben und Wirken.

Sein Geburtshaus, das Casa Natal, liegt nur wenige Schritte von der Plaza Bolívar entfernt. Bolívar war kein armer Mann, das wird hier ganz offensichtlich. In Bolívars mit Silber beschlagenen Handstock waren im goldenen Griff seine Initialen mit Diamanten eingelegt.

Das üppige Stadthaus bot der Familie viel Platz. In drei Innenhöfen konnte flaniert werden. Damals waren die Wände der Zimmerfluchten allerdings noch nicht mit all jenen gewaltigen Ölgemälden dekoriert, die nur eine Hauptperson kennen: Simón Bolívar, Großgrundbesitzer mit offenkundig elitärem Dünkel.

Im benachbarten Museo Bolivariano ruhen auch zwei Uniformknöpfe hinter Glas, dazu die Schulterklappen mit den drei Sternen, die der "General en Jefe" trug. Die Medaillen sind zahlreich, gewaltig war auch die militärische Leistung. 300 Jahre währte die spanische Kolonialherrschaft bereits, als sie unter Simón Bolívars Führung zwischen 1810 und 1824 beendet wurde. Die Bolivianer benannten dankbar gleich ihren ganzen Staat nach ihm.

Trotzdem sagt Iván García, der sich ungefragt genähert hat: "Ich sehe den Bolívar, der so war wie du und ich, ich sehe nicht den Militär, sondern denjenigen, der sich um die Leute kümmerte." Iván García arbeitet als Museumspädagoge und betreut die Schulklassen, für die ein Besuch zum Pflichtprogramm gehört. Der Eintritt ist frei, auch für alle Erwachsenen. Drei Mädchen in Schuluniform haben sich gerade in einem der Innenhöfe unbemerkt in eine steinerne Badewanne gesetzt und verschwinden kichernd im schattigen Dunkel eines angrenzenden Zimmers, als sie sich beobachtet fühlen.

Es verirren sich nicht viele Touristen nach Caracas. "Grundsätzlich sollte jeder Reisende zweimal überlegen, ob Caracas unbedingt Teil der Venezuela-Reise sein muss", schreibt der Reiseführer. Und ja, natürlich ist die Stadt laut. Sie ist auch schmutzig. Und es ist wahr, mit Ausnahme weniger Viertel gilt die ganze Stadt als "zona roja", eine Zone mit hoher Kriminalität, in der man nach Geschäftsschluss besser nur noch Taxi fährt, und in der auch die Polizei nicht immer hilft.

Doch wer tagsüber alleine unterwegs ist, dem wird in der blitzsauberen Metro höflichst ein Platz angeboten. Der führt Gespräche wie mit Iván García, der sich zwar als unbedingter Anhänger von Bolivár präsentiert, aber als noch größerer Fan von Humboldt entpuppt, und der einen nicht entlässt, ohne all seine venezolanischen Lieblingsgerichte anzupreisen, die man während eines Aufenthalts doch bitteschön noch probieren solle. Später auf der Straße weist einen jemand freundlich darauf hin, dass da soeben ein Stift aus der Tasche gefallen sei.

Kaum ist man aber in einer touristischen Gruppe im Zentrum unterwegs, wird Caracas eine anstrengende Metropole. Gerade rund um die Plaza Bolívar soll man hier eine Kleinigkeit kaufen, dort etwas spenden und immer mitkommen zur günstigsten Wechselstube um die Ecke. Wo viel Betrieb herrscht wachen Uniformierte, zu zweit oder zu dritt stehen sie plaudernd an jeder Straßenecke. Ein paar Blocks entfernt herrscht wieder Ruhe.

Wie viele Einwohner in Caracas leben, weiß niemand so genau, es gibt keine Meldepflicht. Sieben Millionen mögen es inzwischen sein. Mehr als die Hälfte soll in den so genannten "barrios humildes" wohnen, den Armenvierteln, die rund um das im Talkessel gelegene Zentrum die Berghänge emporwachsen. Zwei Bolívar Fuerte, 30 Cent, kostet eine kleine Wasserflasche mitten im Zentrum, die Verkäuferin kann den Schein von 20 Bolívar nicht wechseln - morgens um elf ist ihre Kasse noch leer. Die Armut ist groß, daran ändert auch die von Präsident Hugo Chávez ausgerufene "bolivarische Revolution" nichts. Wobei es Simón Bolívar wohl auch eher darum ging, den eigenen Reichtum zu mehren als die Lebensumstände der Bevölkerung zu verbessern. Außerhalb Venezuelas ist seine Person längst nicht mehr unumstritten.

Im Schatten der Palisanderbäume auf der Plaza Bolívar hat inzwischen ein religiöser Prediger Gläubige um sich geschart: "Wir sind alle Sünder", lässt er über sein Mikrofon verlauten, "wir werden geboren, und die Sünde beginnt." Immer mehr Menschen bleiben stehen. Hoffnung und Orientierung können viele gebrauchen.

Simón Bolívar hat alle im Blick - die Gläubigen und die Geldwechsler, die Flaneure und die Jugendcliquen. Zu Füßen seines alles überragenden Denkmals haben sich zwei Mädchen in Jeans niedergelassen und unterhalten sich leise, während über ihnen der bronzene Befreier auf ewig grüßt.