Nordseeinsel Fanø bietet viel Platz und kuschelige Dörfer. Drachenfreaks und Lebenskünstler lieben die nördlichste Insel im Wattenmeer.

Ein Inselchen im Wattenmeer, 16 Kilometer lang, fünf Kilometer breit, knapp 3200 Einwohner. Kein Wunder, dass dort jeder jeden kennt und fast alles mit allem zusammenhängt. Der Naturschützer Marco Brodde zum Beispiel kann nicht nur spannend über Küstendynamik und den Zug der Singvögel erzählen, er engagiert sich auch für das Kunstmuseum im Bilderbuchdorf Sønderho. Oder Bernsteinschleifer Uwe Apel, ein Lebenskünstler, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Oder die wunderbare Malerin Margit Enggaard, deren Ausstellungen in Kopenhagen von den Royals eröffnet werden und die doch ihrer Heimat Fanø treu bleibt. Und alle schätzen sie Wolfgang Schimmelpfennig aus Hamburg, der ihnen seit Jahrzehnten hilft, die Saison früher als anderswo an der dänischen Westküste zu eröffnen.

Der Reihe nach: Fanø, die nördlichste Insel im europäischen Wattenmeer, liegt 50 Kilometer von Sylt entfernt. Gerade mal zwölf Minuten braucht die Fähre von der hässlichen Industriestadt Esbjerg bis zum beschaulichen Hauptort Nordby, und es ist doch eine Reise aus dem 21. Jahrhundert in eine vergangen geglaubte Zeit. In Nordby und erst recht in Sønderho an der Südspitze zeigen Segelschiffe auf dem Reetdach die Windrichtung an; die niedrigen Häuser, in denen früher Kapitäne (oder ihre Witwen) wohnten und hier und da noch heute die Nachfahren der alten Seemannsdynastien, strahlen Geborgenheit und gewachsenen Wohlstand aus. In den dänisch-bunten Gärten, die immer so sympathisch unaufgeräumt wirken, trocknet die Wäsche in der Brise.

Der Bäcker in Sønderho arbeitet nicht wesentlich anders, als es sein Großvater an gleicher Stelle getan haben mag, und Schlachter Christiansen, dem Insulaner und Stammgäste "Weltruf" bescheinigen, hat zwar seinen legendären Laden in Nordby längst mit modernen Kühlregalen ausgerüstet, aber seine hausgemachte Wurst, sein Schinken und seine Leberpastete schmecken nach früher, nach damals, als man noch keinen Anlass hatte, solchen handwerklich arbeitenden Geschäften zu misstrauen. Und in den Gasthäusern, den Kroer, von denen der in Sønderho der älteste und schönste ist, hockt man hyggelig zusammen, das heißt gemütlich, stets mit dem Blick auf die Erinnerungen an eine große, maritim geprägte Vergangenheit.

+++Ein erfolgreiches Rettungsnetz für die Natur+++

Die Insel ist, wie gesagt, kuschelig und winzig, nur wenig mehr als halb so groß wie Sylt. Aber am Strand ist reichlich Platz, so viel wie Sand am Meer. Vor fast 90 Jahren stellten hier Rennfahrer Geschwindigkeitsrekorde auf. Und noch immer dürfen Autos bis ans Wasser fahren, allerdings nur im Schritttempo. Die Insulaner verteidigen diese Tradition mit dem Argument, dass man ansonsten Parkplätze bauen müsste, womöglich im Dünengürtel oder in der Heide.

Hier kommt Marco Brodde, unser Ranger und Ornithologe, wieder ins Spiel. Er ist Naturfreund mit Herz und Seele, aber kein Dogmatiker. Die Autos am Strand, so sagt er ganz gelassen, stören das Leben im Wattenmeer nicht. Selbst gegen Wanderungen durch die Dünen, die durch Bewuchs gut geschützt sind, hat er nichts einzuwenden. Fast jeden Tag zieht der studierte Biologielehrer, der beim Fischereimuseum in Esbjerg angestellt ist, mit Spektiv und Skizzenblock durch die Botanik: Wie geht es heute den Heulern und den Kegelrobben auf den Sandbänken? Ist die Brutzeit der Austernfischer, Rotschenkel oder Kiebitze vorbei?

Schon jetzt ist einiges los in der amphibischen Wunderwelt. Aber erst wenn die Zugvögel aus dem Norden auf jene gefiederten Nomaden treffen, die als Letzte aus dem Süden zurückkommen, geht es hoch über Fanø und tief im Schilf lebhaft zu. Auch die Küstenlandschaft bewegt sich ständig, wenn auch nur über Jahre hinweg sichtbar: An der Südküste schrumpfen gerade die Dünen, ein paar Kilometer weiter nördlich wachsen sie, ebenso die Sandbänke, die Marschinseln und andere Biotope.

+++Im Einklang mit der Natur – Urlaub in Biosphärenreservaten+++

Ein ganz anderes Spektakel lockt jedes Jahr im Juni einige Tausend Menschen, die ein und dieselbe Leidenschaft teilen, auf die Insel. Dann nämlich färbt sich der Himmel tagelang in den wildesten Farben, und diesmal führt nicht die Natur Regie. Die Drachen sind los, heißt das Motto seit Jahrzehnten, wenn Könner und Kinder, Freaks und Familien ihre kreativen Kunstwerke steigen lassen.

Wolfgang Schimmelpfennig, Projektingenieur beim Otto-Versand in Hamburg und Fanø-Urlauber seit Jugendzeiten, hat diese bunten Windspiele, die ganz ohne Kommerz und Sponsoren auskommen, 1984 ins Leben gerufen, spontan und bis heute ohne Organisation. Das mag der Grund sein, dass der Spaßfaktor so hoch wie der Himmel über der Nordsee ist. Die weltweite Kiter-Gemeinde kennt den Termin, immer um den 17. Juni herum, und macht sich unaufgefordert auf den Weg in Wolfgangs Inselparadies, aus Amerika, aus Australien, aus Skandinavien, aus allen Teilen Deutschlands.

Die Fanniker, so nennen sich die Eingeborenen, lieben ihre drachenverrückten Gäste. Weil sie schon vor der Hauptsaison so viel Frohsinn auf die Insel bringen und weil sie schlicht zu ihnen passen. Wohl auch deswegen hat die renommierte Künstlerin Margit Enggaard, deren Galerie in Nordby nicht nur an Regentagen einen Besuch wert ist, vor drei Jahren ein Jubiläumsplakat gemalt, ganz ohne Auftrag, das zu einem Souvenir-Renner geworden ist. Und bei Marianne, der Wirtin von Nana's Stue, einer Traditionskneipe in Sønderho, die auch ein kleines Fliesenmuseum beherbergt, werden vor, während und nach den tollen Tagen zu später Stunde die Tische an die Seite geräumt, und es geht ab, was in Norddeutschland Dans op de Deel heißt.

Ein bisschen stolz ist Wolfgang Schimmelpfennig schon, was aus seiner Idee geworden ist. Seit ein paar Jahren finanzieren er und sein Mitstreiter Rainer Kregovski mit dem Erlös einer inzwischen traditionellen Versteigerung von Drachen und Zubehör ein Waisenhaus in Kolumbien. Und spätestens nach zwei Wochen, wenn die Fans wieder abgereist sind, fällt die Ferieninsel in ihren gewohnten Rhythmus zurück.

Wie der funktioniert, lässt sich in Uwe Apels enger Werkstatt im Herzen von Nordby studieren. Der Bernsteinschleifer aus Kiel hat, ähnlich wie Wolfgang Schimmelpfennig, Fanø schon vor Jahrzehnten für sich entdeckt - aber er ist gleich für immer geblieben. Gemeinsam mit seiner Frau Rita, die hier geboren ist, kauft er, was Urlauber und Insulaner ihm von ihren Strandspaziergängen mitbringen. Daraus entsteht Schmuck, den längst auch junge Mädchen gern tragen. Mittags, wenn der Kunsthandwerker Lust auf eine Pause hat, hängt er einfach ein Schild an die Tür: "Jetzt hat meine Seele frei, geschlossen zwischen zwölf und zwei."