Die Pitons von St. Lucia krönen die Karibik. Doch die Antilleninsel hat noch andere Höhepunkte: flüssigen Sonnenschein, Piraten und Ungeheuer.

St. Lucia. Strände gibt es wie Sand am Meer. Strände mit Vulkansand schon weniger. Und wenn dann noch ein paar Geister vorbeifliegen, hat man sein Handtuch sehr wahrscheinlich am Sugar Beach auf St. Lucia ausgebreitet. Nein, keine herabfallende Kokosnuss hat die Sinne vernebelt, obwohl das bei der Palmendichte durchaus möglich wäre. Es sind die Berge, die einen so gespenstisch in den Arm nehmen. Links der kleine, rechts der große Piton. Fast 800 Meter ragen sie steil und stolz aus dem Wasser. Wie überdimensionale Brüste im grünen Moos-BH.

Doch man sollte das Wahrzeichen St. Lucias nicht auf seine Äußerlichkeit reduzieren. Der 40 Millionen Jahre alte Zwillingskegel hat besondere innere Werte: Die Gespenster, die dort leben, sollen und ab und zu bei den Touristen vorbeischauen. "Keine Angst, es sind nette Geister, niemand hat Angst vor unseren Unsterblichen", sagt Michael Frencis aus dem nahe gelegenen Dorf Soufrière. Für seine Vorfahren sei dieser Ort heilig gewesen, und manche scheinen ihn nach wie vor so schön zu finden, dass sie sich selbst nach ihrem Ableben nicht davon trennen mögen. "Einmal ist Besuchern eine Gruppe Indianer am Lagerfeuer erschienen. Ein anderes Mal zog ein Geist am Strand entlang. Und ich selbst habe mal ein vorbeifliegendes Pferd gesehen", sagt Michael, der - bevor Missverständnisse aufkommen - aufgrund seines Jobs als Fahrer immer nüchtern ist.

Autofahren auf St. Lucia erfordert Konzentration. Auf der 616 Quadratkilometer großen Insel (das ist kleiner als Hamburg) gibt es wahrscheinlich keine 100 Meter, die gerade verlaufen. Im Linksverkehr geht es hoch und runter, die Straßen sind geschmückt mit Serpentinen und Schlaglöchern, Gurte gelten als überflüssige Innenausstattung, an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält sich niemand, dabei geht es teilweise tief die Klippen hinab. Doch der Verkehr ist nicht geprägt von Stress und Smog wie in Bangkok oder Saigon, sondern funktioniert nach der Maxime: "Lass laufen!" Gehupt wird eher, wenn es zufällig gerade zum Song passt, der im Radio läuft.

Musik spielt auf St. Lucia eine große Rolle. Jeden Freitag wird in den Dörfern Gros Islet und Anse La Ray eine karibische Straßenparty veranstaltet, auf der Rum und Reggae eine Mischung eingehen, die so gut nur in der Karibik gelingen kann. Alles klingt und schmeckt nach Lebensfreude. Jeder Zweite im Publikum kennt den DJ oder ist selbst einer; die Anzahl der stolz zur Brust getragenen Bob-Marley-Shirts dürfte nur auf Jamaika höher sein. "Er ist mein Gott, meine Inspiration", sagt Kashima Alfred, die den Sänger als Kettenanhänger bei sich trägt, und steigt in eine Gondel. Eigentlich tanzt sie hinein, das Gefährt wippt ein bisschen hin und her, und dann geht es hoch in den Regenwald, mitten hinein in die Wolken, dort, wo der andere Gott wohnt.

Kashima arbeitet als Naturführerin bei Rain Forest Adventure, ein Park hoch über der Hauptstadt Castries, und sie weiß alles über Kolibris, wilde Orchideen, Kalebassenbäume und die Blaumaskenamazone zu berichten. Der Papagei ist ein Endemit, das heißt, er kommt nur auf St. Lucia vor. Kashima weiß auch, dass der Regen, der hier im Regenwald naturgemäß fällt, nicht Regen gescholten werden sollte. "Wir sagen lieber 'flüssiger Sonnenschein' - denn wirklich störend ist er doch gar nicht", sagt Kashima. So erklärt sich plötzlich, warum das im Supermarkt angebotene Anti-Mücken-Spray von den Einheimischen "Mosquito-Parfüm" genannt wird - denn wirklich wirken tut es nicht.

Im Adventure Park kann man sich nicht nur gemütlich durch den Flüssigsonnenscheinwald kutschieren lassen, sondern auch selbst zum Tarzan werden: Beim Ziplining düst man mit Seilen gesichert von Baum zu Baum. Mancher Amerikaner ruft dabei ernsthaft "Aoaoahhhh!", was nur erlaubt sein sollte, wenn die Freundin wirklich Jane heißt. "Aber uns stört das nicht. Uns stört eigentlich selten etwas", sagt Kashima.

Die Lucianer wirken auffallend entspannt. "Patience is the key" und "Stay cool" steht beispielsweise auf den Fischerbooten, und jeder mit Karibikerfahrung ist darauf vorbereitet, hier beim Reisen das Tempo rausnehmen zu müssen. Vielleicht kommt das bestellte Taxi nicht immer pünktlich, dafür wird jeder Ausländer mit einem herzlichen Lächeln begrüßt, selbst wenn er seekrank und dementsprechend grummelig von einem der zahlreichen Kreuzfahrtschiffen an Land geht.

In der Freundlichkeit der Menschen liegt das größte Potenzial des karibischen Inselstaates. Jeder fühlt sich willkommen, was unter anderem daran liegt, dass sich Besucher und Einheimische gut verstehen. Alle Lucianer sprechen Englisch, außerdem Kreolisch und manche auch Französisch. Diese Vielfalt ist der Geschichte geschuldet. Die ersten Bewohner waren die Arawakindianer und die Kariben. Bei ihnen hieß St. Lucia noch "Hewanorra", was übersetzt "die Insel, wo der Leguan lebt" bedeutet. Die Umbenennung könnte zwischen 1492 und 1502 erfolgt sein. In dem Zeitraum soll das Eiland entdeckt worden sein, von wem genau, ist strittig. Es könnten französische Schiffbrüchige gewesen sein oder - mal wieder - der Seefahrer mit dem größten Entdeckergen. Einige Experten gehen davon aus, dass Christoph Kolumbus den Busen der Karibik bei seiner vierten Reise am 13. Dezember 1502 als Erster sichtete - dem Tag der Heiligen St. Lucia.

In der Folge stritten die Kolonialmächte um die Vormachtstellung auf St. Lucia, allein 13-mal wechselte die Insel ihre Besitzer, gehörte mal den Franzosen, mal den Briten. Jeder wollte dieses karibische Juwel für sich alleine habe. Solche großen Schmuckstücke kann man unmöglich teilen; Liz Taylor würde das verstehen. Seit 1979 ist St. Lucia schließlich unabhängiges Mitglied im Commonwealth of Nations.

Die kriegerische Vergangenheit kann man heute auf der Halbinsel Pigeon Island erspüren, wo die Überreste von Fort Rodney liegen. Viel schöner ist jedoch die Aussicht auf die Nachbarinsel Martinique oder die Black Pearl. Das Segelboot von Captain Jack Sparrow aus dem Film "Fluch der Karibik" ist bei Kindern und anderen Piraten-Fans so beliebt, dass Ausflüge damit fast immer ausgebucht sind.

Auch ein anderer Hollywood-Held beehrte St. Lucia: "Superman" düste im zweiten Teil der Film-Saga vorbei, um beim Diamond-Wasserfall im Botanischen Garten Blumen für seine Angebetete zu besorgen. "Superman's Flight" heißt seitdem ein Tauchgang, der an einer schräg abfallenden Wand im Meer extrem steil nach unten führt. Aber Achtung: In der Tiefe könnten Taucher eventuell auf "The Thing" treffen. Das Ding ist die karibische Ausgabe von Nessie in Loch Ness. Ein geheimnisvolles Ungeheuer, von dem viele Einheimische sprechen, dessen Existenz aber nie bewiesen wurde.

"Die Lucianer sind sehr gute Geschichtenerzähler, die wundervoll von unseren Geistern, Monstern und Vorfahren berichten", sagt Ute Lawaetz, die selbst wie aus der Zeit gefallen wirkt. Wer den Film "Australia" gesehen hat, muss sich eine ältere Version von Nicole Kidman vorstellen, schon hat er ein Bild der Hausherrin vor Augen, wie sie zur Begrüßung im langen Rock auf die Veranda tritt. Die 66-Jährige lebt mit ihren beiden Töchtern auf "Balenbouche Estate". Die Plantage liegt inmitten eines verwunschenen Gartens.

Es gibt alte Möbel, noch ältere sowie seltene Bäume und Pflanzen, weder Fernseher noch Radio und eine stillgelegte Zuckerfabrik, die langsam vom Dschungel verschluckt wird. Die 500 Leute, die hier früher arbeiteten, werden sofort lebendig, wenn die gebürtige Deutsche zu erzählen beginnt. "Ich möchte den Besuchern zeigen, wie es vor ungefähr 150 Jahren zuging, und so das Gefühl für die alte Zeit bewahren." Ute Lawaetz wurde auf einem einsam gelegenen Bauernhof in Tirol groß. Ohne Strom und Wasser auszukommen und sich selbst zu versorgen war daher kein Problem für sie, als sie die Plantage vor 30 Jahren von ihrem Schwiegervater übernahm. Noch heute renoviert sie alles selbst, und wer sie dabei beobachten möchte, kann sie jederzeit an ihrem "vergessenen Ort" besuchen.

Eine andere Sehenswürdigkeit stinkt zum Himmel: St. Lucias Vulkan. Durch seinen beißenden Schwefel-Geruch macht er sich schon Kilometer vor der Ankunft bemerkbar. Aber Nase zu und durch, denn der Anblick des brodelnden Bodens erinnert an eine riesige Freiluft-Hexenküche. Das Wasser ist dunkel gefärbt vom Eisensulfit, hat eine Temperatur von 170 Grad und blubbert eifrig vor sich hin. Ursprünglich haben sich die Führer den Spaß gemacht, auf der dampfenden Erde ein Spiegelei zu braten. Doch dann brach einer von ihnen ein und erlitt schwere Verbrennungen, seitdem wagt sich niemand mehr so nah an den eruptiven Boden.

Unterhalb des Vulkans liegen die Sulphur Springs, eine Art Schwarzes Meer en miniature. In den Schwefelquellen badete vor 200 Jahren die französische Kaiserin Joséphine - heute werden hier Touristen in Lehmmännchen verwandelt. "Macht euch dreckig!", ruft ein Mitarbeiter, der frische Heilerde in Eimern bereitstellt. Die Schlammbowle-Packung soll so gesund sein, dass die Bewohner der nächst gelegenen Siedlung angeblich über 100 Jahre alt werden. Sie sehen allerdings überhaupt nicht so aus. Ein Herr behauptet beispielsweise, "irgendwann im Sommer 1912" geboren worden zu sein, gleicht aber eher einem faltenfreien Frühpensionär. "Unsere Quellen wirken besser als Botox", sagt er. "Darum bleiben wir alle für immer 18."

Unsterblich zu sein - auf St. Lucia scheint es möglich.