Nordschweden ist kein Bespaßungsreiseland. Wer etwas Mühe nicht scheut, wird hier beeindruckende Momente erleben

Um kurz nach 3 Uhr am Nachmittag wird es dunkel. Na ja, so weit es in der tief verschneiten Gegend Nordschwedens eben dunkel wird. Eine Straßenlaterne genügt. Deren Licht wird von Tausenden Schneekristallen gebrochen oder gespiegelt. Sie machen aus der Umgebung jeder Lichtquelle ein glitzerndes Meer. Ein Meer, das gefühlt mehr Licht gibt als so mancher regenverhangene Januartag in Hamburg.

Es ist keine eineinhalb Stunden her, dass unser Airbus 319 im Landeanflug auf Arvidsjaur durch den Hochnebel schaukelte und auf der von Schnee frei geräumten Landebahn des Flughafens aufsetzte. Von hier aus sind es Luftlinie noch rund 100 Kilometer bis zum Polarkreis. Ein Katzensprung in Schwedens Norden, wo Lappland anfängt und Stockholm 900 Kilometer, zwölf Autostunden oder - wie sich in Gesprächen mit den Einheimischen herausstellen wird - ganze Welten entfernt liegt.

Während die Triebwerke - inzwischen auf Umkehrschub gestellt - aufheulen und das Flugzeug ruckartig abbremst, schieben sich das kleine Türmchen, das als Tower dient, am Kabinenfenster vorbei und das flache, eher an einen Stall erinnernde Empfangsgebäude des Airports ins Blickfeld. "Arvidsjaur" steht auf einem schlichten Holzschild geschrieben; gleich neben der schmalen Tür, dem Eingang in die Empfangs- und Abfertigungshalle. Beim Heruntersteigen der Gangway beschleicht den Ankömmling der Gedanke, dass gleich, wenn die Maschine zum Rückflug gestartet ist, jeder hier seine sieben Sachen zusammenpacken, das Licht ausschalten und die Tür abschließen wird.

Viel ist in Arvidsjaur nicht los. Doch für alle jene, die im Winter Schnee bis zum Abwinken zum Langlauf suchen, beim Eisangeln sich das Abendbrot besorgen oder sich - in warme Kleidung eingemummelt - von Sibirian Huskies auf einem Schlitten bei sternklarer Nacht durch tief verschneite Wälder ziehen lassen wollen, für all jene ist Arvidsjaur das Tor in eine winterkalte, aber aufregende Welt. Im Januar oder Februar liegt die Durchschnittstemperatur bei minus 20 Grad. Minus 30 Grad sind keine Seltenheit, auch minus 40 Grad sind drin. Dass es in diesem Winter mit durchschnittlich minus zehn Grad Celsius so warm ist wie seit Jahrzehnten nicht, ist ein im Gespräch mit Einheimischen stets wiederkehrendes Thema. Es wirkt fast so, als seien die Menschen besonders stolz auf die hier sonst vorherrschende Kälte, die die Luft so rein macht.

Guninger Wallström vom Fremdenverkehrsamt lächelt ob unseres eher ungläubigen Staunens. 40 Grad minus - eine schauerliche Vorstellung für einen Hamburger, den der drei Grad kalte, schmuddelige Nordwestwind, der viel zu oft den Winter in der Hansestadt prägt, zur Genüge nervt. Genauso schauerlich wie die Geschichten von Mückenschwärmen, die im Sommer den Aufenthalt im Freien unerträglich machen sollen. "Natürlich gibt es hier viele Mücken", sagt sie. "Aber nicht in den Städten und nicht auf den Seen." Eher in den Wäldern mit ihren feuchten, artenreichen Böden. Und schon gar nicht jetzt, im Winter.

Nordschweden ist ein wildes Land. Berge mit erwähnenswerter Höhe liegen westlich, beiderseits der Grenze zu Norwegen, der Strand im Osten liegt einen Tagesausflug entfernt. Die Region um Arvidsjaur - eine Fläche halb so groß wie Belgien - ist gespickt mit etwa 14 000 Seen. Überbleibsel der Eiszeit, deren dicker Eispanzer einst die Region landschaftlich prägte und es bis heute tut. Beeindruckend, mit welcher Vielfalt der Eiskoloss Mulden aushob, die sich nach seinem Rückzug mit Wasser füllten. Im Sommer kann man aus der Luft kaum erkennen, wo der eine See aufhört und der andere anfängt. Jetzt, im tiefen Winter, lassen Eis und Schnee die Konturen verschwimmen.

Nordschweden ist kein Bespaßungsreiseland. Wer hierher kommt, sucht Anstrengung, sucht Draußensein, sucht den Moment tiefer Zufriedenheit, der sich nur nach schweißtreibendem Stapfen im Schnee oder stundenlangem Wandern über Stock und Stein einstellt. Ein wenig muss es wehtun; hin und wieder muss einem die Luft ausgehen. Erst dann wird der Moment des Innehaltens - an einem Lagerfeuer zum Beispiel - besonders. Sich als Teil der Natur begreifen: Womöglich ist es das, was Reisende hier suchen - und finden.

"Zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!" - Johann Wolfgang von Goethe hat diesen faustschen Satz in einem anderen Zusammenhang geschrieben. Doch hier kann man diese Augenblicke finden. Das mag auch an der Ruhe und der Authentizität liegen, die das eigentliche Kapital der Landschaft sind. Einer Landschaft, die oft sich selbst überlassen ist und die keine künstlichen Reize benötigt. 7000 Menschen leben in der Region. Selbst in einem Land wie Schweden, das mit etwa 450 000 Quadratkilometer Fläche um ein Viertel größer ist als Deutschland und in dem nur 9,42 Millionen Einwohner leben, ist das wenig.

Guninger Wallström spricht von "Silence", von der Ruhe im Wechsel der Jahreszeiten, von der Stille in sternklarer Nacht. "Manchmal fahren die Hiesigen nach Stockholm und dort mit der U-Bahn, nur um Hektik und Lärm zu erleben", sagt sie mit einem Lächeln. Thorbjörn Holmlund, der ein paar Dutzend Kilometer von Arvidsjaur entfernt ein einzigartiges Gemisch aus Museum, Sauna, Restaurant und Schneemobilverleih betreibt, schließt die Augen, wenn er von seiner Heimat erzählt - so als müsste er sich diese kurz vorstellen, damit all seine Verbundenheit aus ihm heraussprudelt. Die Natur "hier draußen" könne dem Menschen viel geben, sagt er. Inmitten der Wälder würden die Menschen zu "Nehmenden", während sie in der Stadt nur "Gebende" seien.

"Tystnad" ist das schwedische Wort für Ruhe. Sie ist in diesen Tagen allgegenwärtig. Im Wald, wo die meterdicke Schneedecke jeden Laut verschluckt, man beim Skilanglauf nur den eigenen Atem und ein Knirschen hört, wenn die Spitze des Skistocks sich in den verharschten Schnee bohrt. Die Ruhe ist gegenwärtig, wenn man beim Eisangeln oder beim Betrachten schneebehangener Bäume ins Grübeln kommt.

Tommy Holmberg sagt, man müsse es "im Blut haben, wenn man dauerhaft hier draußen leben will". Den 39-Jährigen treffen wir in Skelleftea, das gut 130 Straßenkilometer von Arvidsjaur entfernt liegt. Holmberg bietet seinen Kunden aus aller Welt Touren durch die Wildnis an. Er führt sie zu den besten Jagdplätzen, zu den Stellen, an denen man garantiert Fische fängt. Im vergangenen Jahr übernachtete er mehr als 200 Nächte unter freiem Himmel. Man ist geneigt, ihn einen Naturburschen zu nennen, doch das würde es nicht treffen - mit sich im Reinen wohl eher.

Vor allem, wenn Holmberg erzählt. Von dem deutschen Jäger zum Beispiel, der ganz verrückt darauf gewesen sei, ein Auerhuhn zu schießen. Tagelang habe der Deutsche von seinem Traum gesprochen - und als er endlich eines der scheuen Tiere vor dem Gewehr hatte, seien ihm Tränen der Ergriffenheit über die Wangen gelaufen. Oder von dem Angebot aus dem Jahr 2006, den seinerzeit in Bayern sich herumtreibenden Braunbären Bruno zu erschießen. Obwohl Holmberg in seinem Leben schon fünf Bären erlegt hat, lehnte er dieses Angebot ab. Bären, die einen Namen hätten, erschieße man nicht, sagt er. "Das bringt Unglück."

Die Hingebung an seine Heimat verbindet Holmberg mit Menschen, die Ursprünglichkeit suchen. Die nicht als Erstes nach dem Mückenspray fragen oder darüber klagen, dass minus 20 Grad Celsius unerträglich sind. "Du kommst hierher und weißt, das ist die richtige Entscheidung." So einfach sieht es Holmberg. Und so einfach ist es wohl auch.

In den Gitterverhauen unweit des Hauses von Birgitta und Mikael Sandin ist der Teufel los. Die Schlittenhunde sind aus dem Häuschen. Sie rennen hin und her, bellen, strecken ihre feuchte Schnauze in die kalte Winternacht. Einige der Tiere sind außerhalb der Käfige an einem Seil vor einem gut drei Meter langen Hundeschlitten festgemacht. Sie zerren, bellen, wühlen im Schnee, kommen aber nicht vorwärts. Der Schlitten ist an einen Baum gebunden.

Mikael lässt sich Zeit. Geradezu zärtlich streift er jedem der 16 Sibirian Huskies, die später den Schlitten durch den tiefen Schnee ziehen sollen, die Halteleine über, und zwar so, dass sie nicht den Hals abschnürt und nicht beim Laufen hindert. Mikael kennt jeden seiner fast vier Dutzend Hunde mit dem Namen. "Sie sind mein Leben, das, was ich tue", sagt er. Sibirian Huskies hätten mehr Charakter als andere Schlittenhunde. Sie seien nicht zu verspielt, sehr natürlich, aber nicht so aggressiv. "Sie haben das Beste vom Wolf", ergänzt Birgitta. Das Ehepaar bietet Schlittentouren mit seinen Huskies an.

Inzwischen sind alle Hunde angeleint. Das lautstarke Gebell verstummt in dem Moment, in dem Mikael die Leine vom Baum und am Schlitten die Bremse löst, dann mit einer Geste das Startsignal gibt. Die Hunde jagen los, hinein in den dunklen Wald. Mikaels Kopftaschenlampe erfüllt nicht mehr als eine Alibifunktion. Muss sie auch nicht. Auf die Tiere, angeführt vom "Leadingdog" und gesteuert durch den einen oder anderen Befehl, ist Verlass.

Ruhe legt sich über die Passagiere. Hin und wieder knarzt der Holzschlitten, wenn Mikael in einer Kurve die Richtung des Gefährts korrigieren muss. Schneebedeckte Bäume ziehen an einem vorüber, dann öffnet sich eine Lichtung und gibt Tausende Sterne frei, die über einem funkeln.

Mit einem Mal fühlt man sich dem Himmel ganz nah. Vergessen sind der kalte Fahrtwind und die Angst, der Schlitten könnte kippen. Was bleibt, ist ein das Herz überströmendes Glücksgefühl. Was bleibt, ist dieser Moment, von dem man daheim erzählen wird. Von dem man aber auch weiß, dass er unteilbar ist.

Video, Audio und Bildergalerie unter: www.abendblatt.de/nordschweden