Gratwanderung am chinesischen Himalaja-Rand: Begegnung mit der tibetischen Reiseleiterin Nangsed Dolma.

Die junge Frau mit den lachenden Augen hält in der einen Hand einen Becher mit Buttertee, den ihr die alte Frau im abgelegenen Bergdorf Ringha eben gereicht hat, mit der anderen Hand tippt sie eine SMS in ihr Smartphone. Diese Gleichzeitigkeit von Moderne und Tradition - hier das alte Ritual der Begrüßung, wie es seit ewigen Zeiten im tibetischen Kulturraum üblich ist, dort die selbstverständliche Nutzung eines Geräts unserer Zeit - hat geradezu Symbolcharakter.

Die 28-jährige Reiseleiterin Nangsed Dolma, die uns durch das Yunling-Gebirge, den östlichsten Ausläufer des Himalajas, in der chinesischen Provinz Yunnan begleitet hat, pendelt nahezu täglich zwischen den unterschiedlichsten Welten. Ihr Zuhause ist einerseits ein Zimmer in Yunnans Hauptstadt Kunming, einer Sechs-Millionen-Metropole, andererseits die elterliche Dorfhütte in einer Gegend, die sich neuerdings Shangri La nennt, das "wiedergefundene Paradies". Sie wird fast nur von Tibetern und verwandten nichtchinesischen Volksgruppen bewohnt, aber von Chinesen verwaltet - wie nebenan die große autonome Region Tibet, allerdings nicht so strikt bevormundet.

Nangseds Vater züchtet Yaks, baut mit seinen drei Söhnen Gerste an und erntet eine Pilzart in über 4000 Meter Höhe, die sogar in Peking gefragt ist. Die Landwirtschaft sichert ihm einen bescheidenen Wohlstand, immerhin so viel, dass er seine Tochter in Kunming, der Hauptstadt von Yunnan, studieren lassen konnte. Seit sie außerdem ein halbes Jahr in Dharamsala, dem Wohnort des Dalai Lama in Nordindien, verbracht hat, genießt die junge Frau in ihrem Dorf ein besonders hohes Ansehen.

Nangsed spricht hervorragend Englisch, mit ihrer fröhlichen Art kommt sie gut an bei den Touristen aus dem Westen. Von denen lässt sie sich gern Nancy nennen, der Einfachheit halber, wie sie sagt. Vier Tage waren wir mit ihr schon durch die Hochtäler ihrer Heimat gezogen, hatten Orte besucht, die wie aus der Zeit gefallen wirkten, und abgelegene Klöster, in denen wieder buddhistisches Leben pulsiert. Immer wieder hatte sie uns gewarnt, nicht zu schnell aus dem Bus und später aus dem Geländewagen auszusteigen. Die Luft ist dünn in über 3700 Meter Höhe, und nicht nur die dramatisch-schöne Landschaft mit ihren schneebedeckten Fünf- und Sechstausendern im Hintergrund raubt einem den Atem.

Nancy, haben wir sie gefragt, kannst du uns nicht einen Besuch in einem Dorf ermöglichen, vielleicht bei Verwandten von dir? Kein Problem, lasst mir nur so viel Zeit, bis ich wieder ein Netz habe. Und dann ging alles ganz schnell, ein paar Telefonate, und einen Tag später waren wir auf dem rumpligen Wege nach Ringha, drei Stunden mit einem geländegängigen Kleinbus in ein Dorf, wo neben Tibetern auch Lisu leben, Angehörige einer Minderheit, die ethnisch keine Tibeter sind, aber dieselbe Religion praktizieren.

Und nun sitzen wir in einem Holzhaus um einen offenen Feuerplatz, schlürfen Buttertee und hören, von Nangsed übersetzt, wie die Familie Ansum unter diesem Dach lebt. Bauern sind es, nicht arm, nicht reich, der Tradition verpflichtet. Die alte Frau, die uns den Begrüßungstrunk gereicht hat und die jetzt harten Käse aus Yakmilch anbietet, ist die Großmutter von Nangseds Verlobtem. Der, ein Lisu, leistet gerade seinen chinesischen Militärdienst in der Nachbarprovinz Sichuan ab.

Nancy erklärt die Holzsäule in der Mitte des Wohnzimmers, um die zu vielen Gelegenheiten getanzt wird. Sie deutet auf die Holzschwelle am Eingang, die man nicht berühren, nur übersteigen darf. Auf dem Hausaltar stehen zu unserer Verblüffung Bilder vom Dalai Lama und von Mao einträchtig nebeneinander. Nancy findet nichts dabei, man habe sich mit den Chinesen arrangiert, seit die eigene Religion wieder gelebt werden dürfe. Ansonsten lebe man eher neben- als miteinander.

Wie schwarze Punkte wirken die Yaks auf den Weiden rund um das Dorf Ringha, als wir wieder ins Freie treten. In unserer Kleidung hält sich noch lange der Geruch von Rauch und Erde aus der Hütte der Ansums. Wie geht es bei dir weiter, Nangsed, wollen wir wissen, nachdem sich die Tibeterin mit einem Lied ihrer Heimat von uns verabschiedet hat. Sie wolle heiraten, sobald der Freund die Uniform ausgezogen habe, sagt sie lachend. Sie spare jeden Yuan und jeden Dollar vom Trinkgeld für die Hochzeitsreise. Die soll nach Peking gehen und an die große Mauer. Wenigstens einmal im Leben müsse man die gesehen haben - so wie den Potala-Palast in Lhasa, den sie, klar doch, schon dreimal besucht hat.