Ein Erlebniszentrum zeigt das Landleben von 1870 bis 1950

"Socken kann doch heute niemand mehr stopfen", sagt Bente Borger und zieht lächelnd die grobe Nadel durch die engen Maschen. "Viele Kinder beobachten mich mit großen Augen und fragen dann vorsichtig, ob ich denn kein Geld für neue Strümpfe habe. Für die Jüngeren gelten Socken als Mode-, ja Wegwerfprodukt."

Ein wenig wirkt auch Bente Borger wie ein Relikt aus fast vergessener Zeit, wie sie konzentriert auf ihrem bunt bestickten Sofa im Häuslerhof des Andelslandsbyen Nyvang sitzt. Die Anfang Sechzigerin ist eine von zwölf Angestellten und rund 450 Freiwilligen, die jeden Sommer das Genossenschaftsdorf - so die Übersetzung des dänischen Andelslandsbyen - südlich von Holbæk im Norden von Seeland zu Leben erwecken. "Wir versuchen das Landleben zu zeigen, wie es in weiten Teilen Dänemarks von etwa 1870 bis ungefähr ins Jahr 1950 aussah", erzählt Solveig Kristensen - guter Geist des Dorfs und Ehefrau von Nyvang-Chef Tom Kristensen - beim Gang durch das Wohnhaus des Häuslerhofs (dän. Husmandsssted), das den Stil der 1920er und 30er bewahrt.

Damals lebten die Kleinbauern noch mit ihrer vielköpfigen Familie auf wenigen Quadratmetern, froh ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben: Auf dem Holzofen in der Küche steht das Emailgeschirr "Madame blå". Die Betten im Schlafzimmer sind mit Leinenstoff bezogen. Und in der guten Stube, die nur an Festtagen genutzt wurde, spielt als Inbegriff frühen Luxus' ein Grammofon nach einigen Kurbelumdrehungen orchestrale Musik. Nur eine Wand entfernt leben die Tiere: Schweine, Kühe und Pferde. Der Stall ist nicht leer: "Wir versuchen gerade, alte Haustierrassen wie das gefleckte Bentheimer zu züchten", sagt Solveig Kristensen.

Doch nicht nur dort sind in Nyvang Tiere zu sehen. Auch auf dem Feld arbeiten die Bauern und Knechte wie einst - mit Pferd und Handpflug. Auf rund vier Hektar wird so im Frühjahr Korn gesät, das im Spätsommer meist unter Anteilnahme ganzer Generationen von Besuchern geerntet wird. Denn das Genossenschaftsdorf übt eine große Faszination auf ältere wie auf junge Besucher aus, weiß Solveig Kristensen, die seit den Anfängen des historischen Erlebniszentrums 1992 dabei ist: "Unsere alten Besucher freuen sich jedes Mal, wenn sie zu uns kommen - sie erkennen viel aus ihrer Kindheit wieder. Sei es Kaffeeersatz, bestimmte Möbel oder der Geruch von frisch gebackenem Brot." Für alle aber, die jünger als 40 Jahre seien, sei die Zeit der genossenschaftlich organisierten Dörfer und Kleinstädte etwas völlig Unbekanntes. Viele seien darum neugierig - "doch nur die Jüngeren bis etwa 14 Jahre trauen sich, Fragen zu stellen", erlebt die Museumsführerin regelmäßig.

Zu entdecken gibt es in Nyvang viel - der kleine Häuslerhof ist nur einer der Mittelpunkte des Genossenschaftsdorfes. Insgesamt 44 Hektar misst das Gelände rund um den historischen Herrensitz Nyvangsgården. Das repräsentative Hauptgebäude aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherbergt unter anderem ein Schulmuseum sowie eine Ausstellung zur bürgerlichen Wohnkultur. In den Seitengebäuden und früheren Ställen sind ein Bäcker, ein Metzger, aber auch ein Telefonmuseum, ein Radiogeschäft, ein Fahrradladen und andere Fachhändler eingezogen. Eine beeindruckende Sammlung von Kutschen und Pferdewagen sowie eine Feuerwehrwache und eine Post gehören zur Zeitreise auf Nyvang.

Solveig Kristensen führt uns weiter vorbei an der Schmiede, in der Schmied Lennart die Funken fliegen lässt, hinüber zur Meierei. Wie bei ihrer Einweihung 1892 arbeitet die Søstrup Andelsmejeri auch heute noch rein im Dampfbetrieb. Mehr als 70 Bauern liefern mit der Milch ihrer nur 476 Kühe rund eine halbe Million Liter im Jahr. Bei ihrer Schließung 1968 waren es zwei Millionen Liter Milch, die zu Butter wurden - zu wenig, um mit modernen Großmeiereien Schritt halten zu können. Heute riecht es im hygienisch akribisch sauber gehaltenen Gebäude wieder nach Milch und Butter wie einst. Und nach altem Handwerk.

Wir gehen hinüber zum alten Dorfladen von Nyvang - natürlich ebenfalls ein Genossenschaftsladen. "Trønnige Brugsforening" eröffnete erst 2005 wieder als detailgetreue Kopie eines Krämerladens um 1940, in dem es von Futter für die Tiere, bis zu Mehl, Kaffee, Haushaltswaren und Süßigkeiten alles gibt, was in Haus und Hof benötigt wurde. Nur wenige Schritte sind es vom Brugsen zur "neuesten" Attraktion in Nyvang: Feierliche Einweihung der Kirche St. Stefan war Ostern 2007. Ursprünglich gehörte das 1884 erbaute Gotteshaus jedoch der Evangelisch-Lutherischen Freikirche in Igelsø. Als die Gemeinde Ende der 1990er auf wenige ältere Menschen zusammengeschmolzen war, beschloss man den Verkauf ans Genossenschaftsdorf Nyvang - wo die hölzerne Stefanskirche perfekt ins Ensemble einer verschwundenen Zeit passt.

Wirklich verschwunden? Solveig Kristensen zögert, ehe sie sagt: "Manchmal kommt es mir vor, als wäre die Erinnerung an dieses Leben mit mehr Nähe und Menschlichkeit noch in uns. Und in vielen unserer Gäste. Nyvang ist mehr als Kulisse - zum Beispiel lernen dänische Schulklassen hier ganz begeistert Dinge, von denen ihre Großeltern ihnen erzählt haben. Als wäre da eine Sehnsucht, die wir ein wenig stillen."